Jimmy Thyden (42) war wenige Tage alt, als er aus Chile gestohlen und in die USA gebracht wurde. Dort wurde er von ahnungslosen Eltern adoptiert und aufgezogen. Eine Krankenschwester erzählte seiner Mutter María González (69), dass er in einem Inkubator verstorben war. 42 Jahre lang glaubte die Mutter, dass Jimmy Thyden nicht mehr lebt. Erst jetzt sahen sich die beiden wieder – und konnten sich in die Arme schliessen. «Es ist ein Wunder», sagte sie nach dem rührenden Wiedersehen, wie «USA Today» berichtet.
María González war am Boden zerstört, als sie vom angeblichen Tod ihres Sohnes erfuhr. Sie litt während Jahren unter extremer Trauer.
Eines Tages stiess Thyden auf einen Artikel des Newsportals «USA Today». Darin wird beschrieben, wie ein Kalifornier erfuhr, dass er seiner Mutter in Chile gestohlen und illegal von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert worden war. Das brachte Thyden zum Nachdenken: Könnte ihm das Gleiche passiert sein? Über das Portal kontaktierte er die Nichtregierungsorganisation «Nos Buscamos», die es sich zur Mission gemacht hat, verlorene Babies mit ihren Familien zu vereinen.
«So viel Zeit verloren»
Nach einem DNA-Test erfuhr Thyden innerhalb kurzer Zeit die Wahrheit. Dann ging alles sehr schnell: Bald konnte González ihren Sohn in Chile endlich in die Arme schliessen. Seine ersten Worte an die vor Glück schluchzende Mutter: «Hallo Mama, ich liebe dich so sehr.» Die untröstliche Chilenin konnte ihren Sohn kaum ansehen. «Als ich erfuhr, dass er noch lebte, konnte ich es nicht glauben», sagte sie in einem Interview zu «USA Today».
Thydens Frau und die beiden Töchter begleiteten den 42-Jährigen beim emotionalen Moment. Trotz der grossen Freude sei es auch schmerzhaft für ihn. Er müsse seine Mutter und die gesamte Familie nun von Grund auf kennenlernen, sagte er gegenüber dem Newsportal. Er sei dankbar, dass er sein Leben jetzt mit seiner Mutter und vier Geschwistern teilen könne, zugleich trauere er auch um die 42 verlorenen Jahre. «Der Frust, meine Kultur und so viel Zeit verloren zu haben, beschäftigt mich sehr.»
Chiles gestohlene Kinder – auch Spuren in die Schweiz?
Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass zwischen den 1960er- und 1990er-Jahren mehr als 20'000 Babys von meist einkommensschwachen Müttern in Chile entführt und anschliessend im Ausland adoptiert wurden.
Die Praxis erinnerte an Menschenhandel – ein Netzwerk von Hebammen, Ärzten, Sozialarbeitern und Richtern war daran beteiligt. Non-Profit-Organisationen geben an, dass sie seit 2014 bei der Wiedervereinigung von mindestens 650 Menschen geholfen haben. Angeblich sollen einige Kinder auch in die Schweiz gebracht worden sein.
Thyden, ein Strafverteidiger, der 19 Jahre lang in der US-Marine diente, sagte, die Aufarbeitung müsse jetzt beginnen. Als Erstes müsse die chilenische Regierung den angerichteten Schaden anerkennen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um getrennte Familien zu identifizieren und wieder zusammenzuführen. Die Verantwortlichen müssen zudem zur Rechenschaft gezogen werden. Später könne man über Entschädigungen diskutieren. (ene)