Irmgard Furchner (96) steht vor Gericht. Sie ist die ehemalige Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof (Polen). Im wenige Kilometer von Danzig gelegenen KZ hielten die Nazis im Zweiten Weltkrieg über Hunderttausend Menschen gefangen, die meisten davon Juden. Etwa 65'000 Personen starben. Die Staatsanwaltschaft wirft Furchner Beihilfe zum Mord in mehr als 11'000 Fällen vor. Heute hätte der Prozess starten sollen. Doch Furchner gelang die Flucht! Als die Polizei am Morgen klingelte, um die Frau zum Gericht zu begleiten, war sie schon weg.
Die 96-Jährige habe ihr Heim in Quickborn am Donnerstagmorgen in unbekannte Richtung verlassen, sagte die Gerichtssprecherin. «Sie hat ein Taxi genommen.» Fahrziel sei eine U-Bahn-Station in Norderstedt am Hamburger Stadtrand gewesen. Daraufhin wurde sie per Haftbefehl gesucht. Erfolgreich. Am Nachmittag wurde Furchner geschnappt, berichtet die «Welt». Weitere Informationen sind noch nicht bekannt.
Bei der systematischen Tötung geholfen
Furchner wird zur Last gelegt, als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandantur zwischen 1943 und 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung der Inhaftierten geholfen zu haben. Furchner war damals 18 bis 19 Jahre alt, weshalb ihr Fall vor der Jugendkammer verhandelt wird.
Wie «Bild» berichtete, sagte Furchner bereits zweimal als Zeugin aus, in den Jahren 1954 und 1962. 1954 habe sie ausgesagt, dass der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt über ihren Schreibtisch gelaufen sei.
Ehemalige Nazis werden bis heute gejagt
Kommandant Hoppe (Paul Werner Hoppe, ein deutscher SS-Führer und Kommandant der Konzentrationslager Stutthof und Wöbbelin, Anm. der Redaktion) habe ihr täglich Schreiben diktiert und Funksprüche verfügt. Von der Tötungsmaschinerie, der während ihrer Dienstzeit in unmittelbarer Nähe Zehntausende Menschen zum Opfer fielen, habe sie nichts gewusst, sagte sie damals.
Die Aufarbeitung der Nazi-Gräueltaten dauert bis heute an. Einige Kriegsverbrecher wurden erst kürzlich gefunden oder sie kamen aus anderen Gründen noch nicht vor Gericht. Das Verfahren gegen Furchner dürfte eines der letzten sein.
«Völlig blamiert»
Ganz überraschend war ihr Nicht-Auftauchen vor Gericht nicht. Furchner hatte dem Gericht am 8. September einen Brief geschrieben und angekündigt, dem Prozess fernbleiben zu wollen. «Aufgrund meines Alters und körperlicher Einschränkungen werde ich die Gerichtstermine nicht wahrnehmen und bitte den Herrn Verteidiger, mich zu vertreten», schrieb sie an das Landgericht Itzehoe in einem Brief, welcher der «Welt» vorliegt. Dass sie aber flüchten würde, hatte wohl niemand erwartet.
Der Vizepräsident des Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, kritisierte das Landgericht. Die Justiz hätte das Verfahren «nicht ernst genommen», sagte er der «Welt». «Das Gericht hätte veranlassen müssen, dass in den zwei Tagen vor dem Prozess ein Polizeiauto vor dem Heim steht, um Präsenz zu zeigen. So hat sich die Justiz vor den Augen der Weltöffentlichkeit völlig blamiert.»
Sollte Furchner verurteilt werden, droht ihr eine Haftstrafe. Vergangenes Jahr fand der Prozess gegen Bruno Dey statt. Er arbeitete ebenfalls in Stutthof, als Wachmann für die SS. Am 23. Juli 2020 wurde Dey wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen und wegen Beihilfe zu einem versuchten Mord zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. (vof)