Es heisst, in Sibirien existiert der kälteste, bewohnte Ort der Welt. Also kein Land für Sommerferien – aber das könnte sich ändern. Momentan fegt eine Hitzewelle über die russische Arktis. In der Stadt Chatanga sollte es zu dieser Jahreszeit 0 Grad kalt sein – am 22. Mai zeigte der Thermometer aber 25 Grad, schreibt «Guardian». In einer anderen Stadt ist es gar 30 Grad warm.
Klimaforscher sind alarmiert. Wegen der Hitzewelle könnte das Jahr 2020 das heisseste Jahr werden seit Beginn der Aufzeichnungen. Ein Rückschritt: Aufgrund der Coronakrise sind die weltweiten CO2-Emissionen vorübergehend zurückgegangen.
Der Mai knackt die Hitzerekorde
Der europäische Wetterradar «Copernicus Climate Change Service», kurz C3S, misst Rekordtemperaturen: Die Oberflächentemperaturen in Teilen Sibiriens lagen im Mai bis zu 10 Grad über dem Durchschnitt. Gegenüber «Guardian» erklärt Martin Stendel vom Dänischen Meteorologischen Institut, dass solche aussergewöhnliche Temperaturen in Nordwest-Sibirien wahrscheinlich nur einmal in 100'000 Jahren auftreten würden – wäre nicht die vom Menschen verursachte globale Erwärmung.
Aber nicht nur der Mai war ungewöhnlich warm. Auch im Winter gab es wiederholte Hitzeperioden. Die Chefmeteorologin des russischen Wetterdienstes Rosgidromet, Marina Makarowa, sagt: «Dieser Winter war der heisseste in Sibirien seit Beginn der Aufzeichnungen vor 130 Jahren.» Die Durchschnittstemperatur sei bis zu 6 Grad über der Norm gewesen.
«Temperaturschwankungen nicht unerwartet»
Überall werde es wärmer, aber nicht überall gleichmässig, sagt Chefmeteorologin Makarowa. Westsibirien steche besonders hervor. Die Temperaturen in der russischen Arktis steigen besonders schnell, weil die Meeresströmungen Wärme zu den Polen transportieren. Eis und Schnee reflektieren die Wärme und schmelzen. «Bis zu einem gewissen Grad sind grosse Temperaturschwankungen nicht unerwartet.» Ungewöhnlich sei aber, wie lange die Hitzewelle schon anhält.
Im Dezember kommentierte Russlands Präsident Wladimir Putin die ungewöhnliche Hitze: «Einige unserer Städte wurden nördlich des Polarkreises, auf dem Permafrostboden, gebaut. Wenn es zu tauen beginnt, können Sie sich vorstellen, welche Folgen das haben würde». Die Lage sei ernst.
Die Folgen der Hitzewelle haben mittlerweile katastrophale Ausmasse angenommen. Ein Beispiel: die Öl-Katastrophe in Norilsk, Sibirien. Wegen eines eingestürzten Treibstofftanks flossen rund 15’000 Tonnen Diesel in den Fluss Ambarnaja. Der Dieselöl-Tank stürzte ein, weil der Permafrostboden durch den Klimawandel taut und damit seine Festigkeit als Baugrund verliert.
Schmelzendes Eis und Waldbrände
Nicht nur das ewige Eis verendet unter der Hitze – auch die Lunge der Welt leidet. In den Wäldern Sibiriens wüteten letzten Sommer heftige Brände. Hunderttausende Hektaren Wald verkamen zu Asche. Landwirte entzünden im Frühling oft Feuer, um die Vegetation zu säubern. Brände im Sommer sind keine Seltenheit – diese fielen aber heftiger aus als sonst. Gemäss russischen Behörden sei die Hitze der Grund gewesen.
Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste: Mit der Hitze macht sich ein weiterer Baum-Feind breit. Der sibirische Seidenspinner vermehrt sich rasend schnell. Seine Larven nisten sich in Nadelbäume ein und fressen deren Nadeln. Die Bäume seien dadurch anfälliger für Brände, sagt Mottenexperte Vladimir Soldatov gegenüber «AFP». «In meiner ganzen Karriere habe ich noch nie so grosse und schnell wachsende Motten gesehen.»