Die Anzeichen für eine mögliche russische Grossoffensive rund um den Jahrestag der Invasion in der Ukraine verdichten sich. Die russische Militärführung habe es laut Experten des Institute for the Study of War (ISW) eilig, eine Offensive zu starten, bevor westliche Militärhilfe in der Ukraine eintreffe. Zudem bringe das Tauwetter im Frühjahr schlammige Böden und behindere damit schnelle Offensivbewegungen.
Doch dass die Truppen von Kreml-Chef Wladimir Putin (70) Erfolg haben werden, glaubt der italienische Militär- und Ukraine-Kenner Thomas C. Theiner nicht. Laut ihm haben die Russen «keine Chance», das Land zu erobern, wie er im Interview mit der «Welt» erklärt. Dabei ist auch er davon überzeugt, dass eine russische Grossoffensive bevorstehe. Und der Zeitpunkt ist günstig. Denn noch fehlen die wichtigen Panzer-Lieferungen aus dem Westen in der Ukraine. Daher müssten die Ukrainer erstmal abwarten und dann selbst eine Offensive starten.
«Die Idee dürfte sein, die Russen angreifen und durchbrechen zu lassen. Dann kommt der Gegenschlag mit britischen Challenger-, deutschen Leopard- und amerikanischen Abrams-Panzern sowie natürlich auch Schützenpanzern. Die russische Offensive soll mit mechanisierten Kräften zerschlagen werden», sagt der Experte zur «Welt».
«Das gesamte russische militärische Netzwerk ist kompromittiert»
Die Lieferungen aus dem Westen seien dabei entscheidend. Ein westlicher Panzer besitze den Wert von vier russischen Panzern, so Theiner. «Das heisst, wenn ich eine Kompanie aus 14 deutschen Leopard 2A6 habe und damit auf ein russisches Panzerbataillon treffe, geht das mit 33 zerstörten russischen Panzern und einem beschädigten Leopard aus», rechnet er vor. Theiner ist sich sicher: «Die Russen haben keine Möglichkeit, mit der westlichen Industrieproduktion und den Waffen mitzuhalten. Keine Chance.»
Der Krieg in der Ukraine
Hinzu komme: Die Ukrainer können auf die Unterstützung mehrerer westlicher Geheimdienste zählen. Der Westen helfe den Ukrainern mit Technik und Aufklärungsflügen im rumänischen Luftraum. So könnten russische Bataillone und Flugzeuge schnell ausfindig gemacht werden. Und: «Das gesamte russische militärische Netzwerk ist kompromittiert», weiss der Armeekenner.
Vergleich zwischen Putin und Assad
Was Theiner Sorgen macht: Den Russen bleibt eigentlich nur noch der Einsatz von Giftgas. «Sehen Sie, 60 oder 70 Kanister können die gesamte ukrainische Verteidigung in Bachmut innerhalb von 15 Minuten ausser Gefecht setzen», so der Militärstratege.
Er wagt einen Vergleich zwischen Kreml-Chef Wladimir Putin und dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad (57), der in seinem Land Hunderte Menschen mit Giftgas getötet habe. «Erinnern wir uns an Assad. Er ist in Syrien immer noch an der Macht und auf dem Weg zurück zu internationaler Rehabilitierung.»
Theiner hat mehrere Jahre in der Ukraine gelebt. Nach dem Wehrdienst wurde er Filmproduzent, sein Interesse an militärischer Strategie ist geblieben. Fast 100'000 Menschen folgen ihm auf Twitter, seine ehemaligen Kollegen arbeiten inzwischen teilweise für die Nato. Er hat diverse Kontakte bei europäischen und US-Streitkräften. (nad)