«Sein oder nicht sein», mit dramatischen Worten aus William Shakespeares Hamlet warnte EU-Ratspräsident Donald Tusk kürzlich in einem Brief die Staatschefs der EU. Und macht keinen Hehl daraus, dass Europa «vor der grössten Herausforderung für uns alle» stehe. Tatsächlich scheint die Griechenland-Krise wie ein Kindergeburtstag angesichts der Herausforderungen vor dem EU-Gipfel, zu dem sich ab Donnerstag die 28 Staats- und Regierungschefs in Brüssel treffen: der drohende Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union, der Kollaps des Schengenraums, die Flüchtlingskrise.
Die EU mauert sich gegen aussen immer stärker ein – und droht gleichzeitig im Innern zu zersplittern. Es ist bittere Ironie, dass die EU zwar Banken mit Milliardenkrediten retten kann, aber an Menschen zu zerbrechen droht. Denn die Flüchtlingskrise offenbart die Lüge einer «immer engeren Union der Völker Europas», wie es seit 1957 in den EU-Verträgen heisst. Tatsächlich besteht der grenzenlose Schengenraum – eines der wichtigsten EU-Integrationsprojekte – derzeit eigentlich nur noch auf dem Papier. Vielmehr schiessen wieder Grenzzäune aus dem Boden.
Bockige Osteuropäer
Vor allem die osteuropäischen EU-Staaten der Visegrád-Gruppe (Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei) bocken gegen die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Sie wollen die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge endgültig abriegeln, da die Flüchtlingskrise ihrer Ansicht nach den Frieden und die Sicherheit Europas bedrohe. Ihr Ziel ist ein Grenzzaun an der mazedonisch-griechischen Grenze, weil Griechenland nicht in der Lage sei, den Schengenraum zu sichern.
Stauen sich aber die Flüchtlinge an Griechenlands nördlicher Grenze, würde dies das Land definitiv ins Chaos stürzen. Schon jetzt ist das angeschlagene Griechenland überfordert mit der Registrierung und Aufnahme der tausenden Flüchtlingen, die noch immer täglich mit Booten aus der Türkei ankommen.
Sinnbild dafür sind die mehreren hunderttausend Rettungswesten, die sich auf der Insel Lesbos türmen. Auf der Insel ist seit Herbst das erste von fünf geplanten Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Betrieb. Laut des griechischen Verteidigungsministers Panos Kammenos seien mittlerweile vier dieser «Hotspots» bereit. Mit den Zentren sollen Flüchtlinge besser auf EU-Staaten verteilt werden. Doch genau gegen diese Pläne Angela Merkels wehren sich die Visegrád-Staaten. Sie wollen Abschottung und stemmen sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen.
Dass Flüchtlinge dereinst gleichmässig in der EU verteilt werden, wie von Merkel gefordert, scheint immer aussichtsloser. Sogar Frankreich setzte am Samstag eine Obergrenze für Flüchtlinge: 30'000 wolle das Land aufnehmen, «dazu sind wir bereit», sagte Premierminister Manuel Valls, «aber nicht zu mehr». Österreich beschloss im Januar ebenfalls eine Obergrenze von 37'500 für 2016, die laut Regierung bereits im Laufe der nächsten Wochen erreicht werden soll.
Wo die Grenzen dicht sind
Von innereuropäischer Solidarität ist derzeit nichts zu spüren. Vielmehr spriessen wieder Grenzzäune. Folgende EU-Staaten haben solche hochgezogen: Ungarn an der mehr als 300 Kilometer Grenze zu Kroatien, zu Kroatien hat auch Slowenien an Grenzübergängen Stacheldraht installiert. Österreich an vier Kilometern Grenze zu Slowenien. Bulgarien in Grenznähe zur Türkei, so wie Griechenland auf 10 Kilometern, der Rest der 200 Kilometer Grenze zur Türkei wird überwacht. Grenzzäune gibt es auch in den spanischen Nordafrika-Enklaven Melilla und Ceuta, sowie beim Eingang zum Euro-Tunnel in Calais.
Folgende EU-Staaten haben zudem Grenzkontrollen wieder eingeführt: Frankreich seit den Anschlägen im November, Deutschland seit September im Einfallstor Bayern. Ebenso seit September kontrollieren Tschechien und die Slowakei. Schweden, Dänemark und Finnland kontrollieren stichprobenartig. Stärker kontrolliert werden Fähren, Züge und Busse. Kroatien und Rumänien kontrollieren ihre Grenzen nur teilweise.
Und dann wäre da noch der «Brexit»
Als gäbe es für die EU nicht genug zu meistern, droht auch noch der Austritt Grossbritanniens aus der Union. Im Sommer stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Premier David Cameron will daher am Donnerstag bessere Bedingungen für einen Verbleib aushandeln. Sollten die Briten im Sommer aber trotzdem «bye bye« zu Europa sagen, wäre dies der Anfang vom Ende der Union in ihrer heutigen Form. Ein Staat nach dem anderen könnte dann quengeln und ausscheren. Denn vielerorts wächst bei den Bürgern der Unmut über die Entwicklung der EU. Das europäische Projekt droht zu scheitern.
Bereits machen daher radikale Szenarien die Runde. Die EU soll sich zum Beispiel aufspalten in einen harten, föderalistischen Kern um Frankreich, Deutschland, Belgien, die Niederlanden und Luxemburg. Und in einen äusseren Ring, der nicht mehr wäre als ein Binnenmarkt.