Sie haben es doch noch geschafft: Nach vier Tagen zähen Ringens haben die Staats- und Regierungschefs der EU das grösste Finanzpaket der EU verabschiedet. Mehrmals stand der Gipfel wegen unterschiedlicher Auffassungen kurz vor dem Scheitern.
Beschlossen wurden ein Haushaltspaket von 1074 Milliarden Euro für die kommenden sieben Jahre sowie ein Konjunktur- und Investitionsprogramm in der Höhe von 750 Milliarden Euro gegen die Folgen der Corona-Krise. «Ein historischer Moment für Europa», sagte eine erleichterte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (61) nach überstandenem Kraftakt.
Vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (66) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (42) hatten sich vehement für das Finanzpaket starkgemacht. Aber auch wenn es nun nach einem Erfolg für die beiden aussieht, mussten sie am Gipfel auf Druck kleiner Staaten Rückschläge in Kauf nehmen.
Opposition aus Westeuropa
Da sind einmal die aufständischen «Sparsamen Vier». Die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden und später auch noch Finnland haben durchgesetzt, dass nicht wie vorgesehen 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Beiträgen verteilt werden, sondern «nur» 390 Milliarden Euro.
Die erfreute dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (42) etwa sprach von einer solidarischen Abmachung mit einem weiterhin grossen Volumen, das jedoch nun eine «bessere Balance» habe.
Opposition aus Osteuropa
Da sind aber auch die aufmüpfigen Staaten wie Ungarn und Polen, die sich erfolgreich gegen einen Rechtsstaatsmechanismus wehrten, der Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten erlaubt hätte. Man einigte sich schliesslich auf einen schwammigen Kann-Kompromiss: Es wird nun ein System eingeführt, nach dem die Vergabe von Geld an Bedingungen verknüpft werden kann. Bei Verstössen kann dann die Kommission Massnahmen vorschlagen.
Die ungarischen Medien feierten diesen zahnlosen Kompromiss als Sieg für Ministerpräsident Viktor Orban (57).
Kleine wollen mehr Autonomie
Die erfolgreiche Opposition mehrerer Kleinstaaten zeigt, dass die EU im Umbruch ist. Rolf Weder (60), Professor für Aussenwirtschaft und Europäische Integration an der Uni Basel, erklärt gegenüber BLICK: «Die Länder, die sich gegen aus ihrer Sicht überhöhte Zuschüsse wehrten, haben eine etwas andere Vorstellung zur Weiterentwicklung der EU: mehr Eigenverantwortung der einzelnen Länder, geringere Transfers, weniger politische Integration.»
Das widerspreche etwa den Ideen des französischen Präsidenten Macron. Weder: «Seine Vorstellung der künftigen EU ist sehr zentralistisch geprägt mit einer starken Stellung Frankreichs.»
Jetzt handeln, oder es wird gefährlich
Nach dem Krisengipfel in Brüssel rät Weder der EU, schon bald grundsätzlich über ihre Strategie und Ziele nachzudenken – und zwar nicht in der EU-Kommission, sondern in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Soll die EU so gross sein und noch grösser werden? Ist der Euro wirklich so wichtig? Wie gross soll die politische Integration sein? Soll es verschiedene Gruppen von Mitgliedern geben?
Würden diese Überlegungen nicht bald geführt, sieht Weder für die EU schwarz. Weder: «Dann besteht die Gefahr, dass das Fuder bald überladen wird und der Wagen zusammenbricht.»