Worum gehts am EU-Gipfel in Brüssel?
Um das grösste Finanzpaket in der Geschichte der EU. Die Staats- und Regierungschefs diskutieren einerseits über das Haushaltspaket für die nächsten sieben Jahre, das über eine Billion Euro beträgt. Andererseits soll ein Corona-Wiederaufbauprogramm abgesegnet werden, wozu ursprünglich 750 Milliarden Euro vorgeschlagen worden waren.
Worüber streiten die EU-Staaten?
Praktisch über alles. Zentrales Thema ist die Höhe des Corona-Programms. Es geht aber auch um Sanktionen, wenn Mitgliedstaaten gegen europäisches Grundrecht verstossen. Ungarns Regierungschef Viktor Orban (57) droht mit Blockade, wenn – etwa wegen seiner restriktiven Flüchtlingspolitik – Fördergelder gekürzt oder Stimmen im Ministerrat entzogen würden.
Was wollen die «sparsamen Vier»?
Dänemark, Schweden, Österreich und die Niederlande warnen als die «sparsamen Vier» vor zu hohen Corona-Ausgaben. Zu ihnen hat sich inzwischen auch Finnland gesellt. Diese Staaten wollen verhindern, dass Milliarden fliessen, ohne dass sie zurückbezahlt werden müssen. Hochverschuldete und von Corona stark betroffene Länder wie Italien und Spanien fordern aber finanzielle Hilfe ohne Rückzahlung.
Wie soll das teure Corona-Programm finanziert werden?
Die Milliarden für den Wiederaufbaufonds soll sich die EU-Kommission an den Finanzmärkten leihen, die EU-Staaten stehen dafür je nach Wirtschaftskraft gerade. Damit würde die EU zum ersten Mal gemeinsam Schulden machen. Auch die Erhebung einer EU-Steuer ist nicht auszuschliessen. Gilbert Casasus (64), Professor für Europastudien an der Universität Freiburg: «Eine solche Steuer ist zwar derzeit unpopulär, sie würde aber endlich Klarheit in die Finanzierung und Geldvergabe der EU bringen.»
Wie kam dieser Finanzierungsplan zustande?
Er geht auf einen deutsch-französischen Vorschlag zurück, der von Kanzlerin Angela Merkel (66) als aktuelle EU-Ratspräsidentin vehement unterstützt wird. Gilbert Casasus: «Es handelt sich um eine Umkehr der sparsamen Haltung der Bundesrepublik, die sich bislang weigerte, eine Zuschusspolitik zu betreiben.» Der Grund für diesen Paradigmenwechsel: Die deutsche Exportwirtschaft ist auf eine gesunde Wirtschaft aller EU-Länder angewiesen und unternimmt alles, um eine Rezessionspolitik zu verhindern.
Werden bei einem Scheitern des Gipfels Staaten aus der EU austreten? Zerfällt die EU?
Damit rechnet Gilbert Casasus nicht. «Man hat beim Brexit gemerkt, wie schwierig und teuer ein Austritt ist. Vor allem die Nehmer-Länder sind klug genug zu wissen, wie sehr sie von der EU profitieren.» Die heftigen Diskussionen am Gipfel könnten aber zu einem neuen Vertragswerk unter den EU-Staaten führen. Casasus: «Der Lissabonner Vertrag ist viel zu umfangreich und schwer verständlich. Die EU braucht einen einfachen, leicht verständlichen Vertrag mit klarer Zuordnung von Kompetenzen, damit sich jeder EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger mit der EU identifizieren kann.»
Welche Folgen hätte ein Scheitern des Gipfels für die EU, welche für die Schweiz?
Es gäbe nur Verlierer, und der Graben zwischen Süd- und Nordeuropa wäre noch grösser als zur Zeit der Eurokrise, ist Gilbert Casasus überzeugt. Der Schaden wäre enorm, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch für die Währungspolitik. Casasus: «Der Euro würde fallen und der Schweizer Franken in die Höhe schiessen, was überhaupt nicht im Interesse unseres Landes wäre.»