Auch dieses Wochenende demonstrierten in Jerusalem gemäss Medienberichten wieder Hunderte Menschen vor einem Haus von Benjamin Netanyahu. Ähnliche Proteste gab es auch in Tel Aviv. Viele Israelis werfen dem umstrittenen Ministerpräsidenten vor, den Überfall der Hamas auf das Land nicht verhindert zu haben. Auch seine Weigerung, Mitverantwortung dafür zu übernehmen, dass Israel dem Hamas-Angriff am 7. Oktober so wehrlos ausgeliefert war, sorgt für grosse Wut, besonders unter liberalen Juden in Israel.
Unter ihnen ist auch Zev Perlmutter (47), ein liberaler Aktivist und Mitorganisator der grossen Proteste gegen Netanyahus Justizreform. Der Software-Unternehmer und dreifache Vater aus Tel Aviv sieht Netanyahus Handlungen kritisch, wie er im Interview mit Blick erzählt.
Blick: Herr Perlmutter, wie haben Sie persönlich den brutalen Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten erlebt?
Zev Perlmutter: Ich war gerade in Köln gelandet, als die ersten Whatsapp-Messages eingingen. Sie waren gespickt mit Raketen-Icons. Es herrschte Chaos in Israel. Die Lage war völlig unklar. Unser Haus ist rund 35 Kilometer von Gaza entfernt. Also schrieb ich meiner Frau: Pack die Sachen und verlass das Haus!
Wann wurde Ihnen das Ausmass des Angriffs klar?
Nach und nach kamen Nachrichten rein, erschienen schreckliche Videos im Netz. Livestreams von Bodycams der Hamas-Terroristen. Sie töteten jeden – Besucher des Supernova-Musikfestivals, ganze Familien, schwangere Frauen und Kinder, Touristen – selbst Beduinen und arabische Israelis. Und sie waren stolz darauf. Wir leben in einer digitalen Welt. Grausige Bilder gehören zur psychologischen Kriegsführung der Terroristen. Ich stand wie alle in Israel unter Schock. Wir alle fühlten uns im Stich gelassen, schutzlos.
Im Stich gelassen von Ihrer Regierung?
Natürlich. Normalerweise sind die Grenzen in Israel sehr gut bewacht. Doch am 7. Oktober hat alles versagt: Die Überwachungstechnologie, Geheimdienst, Militär. Es war ein jüdischer Feiertag. Rund 600 Soldaten wurden Tage zuvor von Gaza abgezogen, um Siedler in der Westbank zu beschützen. Warnungen wurden ignoriert. Dass wir am 7. Oktober überfallen wurden, hängt mit der Politik der Regierung zusammen. Netanyahu hat ein Geflecht aus Vetternwirtschaft aufgebaut, um die Rechtsstaatlichkeit auszuhöhlen, um sich aus der eigenen Korruptionsaffäre zu ziehen. Er hat fähige Leute abgesetzt und sich mit Ja-Sagern umgeben. Geld floss in religiöse Gruppen und nicht in staatliche Einrichtungen. Das hat alle Systeme geschwächt. Hamas hat die Situation erkannt und genutzt. Es war das richtige Timing für sie.
Werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen?
Vor dem Krieg dominierte in Israel ein Klima des Protestes. Die rechtspopulistische Koalition spaltete die Gesellschaft. Dann kam der 7. Oktober. Heute hält die Nation zusammen. Es ist nicht die Zeit für Kritik. Wir müssen jetzt die Hamas bekämpfen und die Geiseln befreien. Darin sind wir uns alle einig.
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Und nach dem Krieg?
Nach dem Krieg muss eine unabhängige Untersuchung klären, was zu diesem schrecklichen Massaker führte, wer wo versagte. Das wird das Land verlangen. Ermittlungen, die ruhig und professionell durchgeführt werden müssen. Ich hoffe sehr, dass dies zum Ende der Netanyahu-Regierung führt und neue junge Kräfte, vielleicht aus der Protestbewegung, ans Ruder kommen – darunter hoffentlich auch Frauen, denn sie sind die Heldinnen in unserer Zeit.
Wie geht es den Israelis heute?
Wir erleben ein Wechselbad der Gefühle. Auf den Schock folgten Trauer, Ohnmacht, Wut. Nach nur wenigen Tagen kam aber auch Hoffnung auf. Es entwickelte sich sehr schnell eine Welle der gegenseitigen Hilfe. Israel ist ein kleines Land. Die Not hat das Volk zusammengeschweisst. Während die Regierung auch in den ersten Wochen versagte, funktionierten die privaten Initiativen hochprofessionell. Selbst das Militär wurde zunächst privat organisiert.
Können Sie uns das näher erklären?
Für die Protestbewegung gegen die Justizreform, die zuweilen bis zu 700'000 Demonstranten auf die Strassen brachte, waren in den vergangenen Monaten grosse Netzwerke aufgebaut worden. Damals hatten sich Menschen aus allen Bereichen organisiert. Ob «Militärische Bruderschaft», Frauenaktivisten, Ärzte, Juristen, Sozialarbeiter, IT-Spezialisten – alle zogen an einem Strang, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu retten. Diese Strukturen und jene der NGOs helfen nun bei den Evakuierungen von Zigtausenden Israelis, bei deren Unterbringung, bei Spendensammlungen und der Versorgung der Soldaten.
Der Kampf gegen die Hamas fordert viele Tausend Opfer in Gaza. Trifft Sie das persönlich?
Glauben Sie mir, wir wollen keinen Krieg. Wir wollen keine Rache. Aber am Ende des Tages müssen wir uns schützen – und auch die Demokratie. Wir müssen dafür sorgen, dass ein Massaker wie jenes vom 7. Oktober nie wieder geschieht. Man darf nicht vergessen, dass wir von arabischen Ländern bedroht werden. Die Hamas will unseren Tod, nicht das Wohl ihres Volkes. Sie missbrauchen ihre Bürger als menschliche Schutzschilde und nutzen deren Leid zu Propagandazwecken.
Wie stellen Sie sich einen Frieden mit Gaza vor?
Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Wir sind jetzt mitten im Sturm. Es gilt, die Hamas zu zerschlagen. Ich bin liberal und glaube an eine pragmatische Lösung. Es braucht eine Regierung in Gaza, die den Frieden will. Wir werden den Palästinensern den Handel ermöglichen, ihnen zur Technologie verhelfen. Denn die Leute in Gaza sind, wie viele andere Menschen auch, intelligent, kreativ und sehr fleissig. Es muss ihnen endlich erlaubt werden, ein glückliches Leben zu führen.