Live, vor Ort, ohne Maske. Wenn der Schweizer Gjon Muharremaj (22) beim Eurovision Song Contest (ESC) vom 17. bis 22. Mai in Rotterdam mit dem Titel «Tout l'univers» um den Sieg kämpft, sind bis zu 3500 Zuschauer dabei. Ein Grossanlass, wie er seit Pandemiebeginn europaweit – bis auf wenige Ausnahmen – nicht mehr stattgefunden hat. Wie ist das möglich?
«Modellversuch» heisst das Zauberwort, unter dem die Eventbranche und Regierungen versuchen, ein Stück Normalität zurückzugewinnen. Wissenschaftler begleiten die Versuche, um herauszufinden, wie hoch das Infektionsrisiko ist. In Barcelona (Spanien) durften so Ende März schon 5000 Menschen ein Konzert geniessen, im englischen Liverpool feierten kürzlich 6000 bei zwei Rave-Partys.
Auch die niederländische Regierung hat grünes Licht für eine ganze Reihe solcher Versuche für Konzerte, Theateraufführungen und Sportereignisse gegeben. Bei den seit Februar stattfindenden sogenannten «Fieldlab Events» gelten strenge Corona-Schutzmassnahmen.
Massig Tests – dafür keine Abstandsregeln
Ein Ticket für eine oder mehrere der neun ESC-Shows (drei live, sechs Proben) bekommt nur, wer bereits im letzten Jahr ein Billett gekauft hatte und nicht zur Risikogruppe gehört. Maximal 3500 Zuschauer dürfen in die Ahoy Arena in Rotterdam – nur etwa ein Fünftel der Hallenkapazität. Wer sich auf dem Gelände bewegt, wird alle 48 Stunden getestet. Besucher müssen sich zwei Apps runterladen und am Tag der Show einen Schnelltest machen – Selbsttests zählen nicht. Am Sitzplatz müssen sie keine Maske tragen, Abstandsregeln sind aufgehoben. Fünf Tage nach dem Besuch sollen sie erneut zum Corona-Test.
Die ersten ähnlichen Testläufe machen Hoffnung. «Von den mehr als sechstausend Personen, die auf den Veranstaltungen waren, wurden nur fünf währenddessen oder in deren zeitlicher Nähe mit dem Virus angesteckt», sagt Andreas Voss (50), Professor für Infektionskontrolle an der holländischen Radboud-Universität in Nijmegen und einer der beteiligten Forscher.
Auch in der Schweiz wartet die coronagebeutelte Eventbranche gespannt auf den Beginn des grössten Musikwettbewerbs Europas. Wird der ESC nicht zum Superspreader-Event, könnte das Modell auch hierzulande Schule machen. «Wenns gut abläuft, könnte auch die Schweiz sagen: Probieren wir das», sagt Ivo Frei (43), der bei der Teststrategie in Graubünden führend mitwirkt, zu Blick.
Fallzahlen in den Niederlanden sind mehr als doppelt so hoch wie in der Schweiz
Harte Corona-Massnahmen und Komplettverbote sind angesichts der steigenden Impfquote und fehlender Daten zu Infektionsrisiken immer schwerer zu rechtfertigen. Reihenweise hoben Gerichte in den vergangenen Monaten Verbote auf. Das Argument: Regierungen dürfen Grundrechte nicht einschränken oder etwa die Gastronomie nicht zum Dichtmachen verdonnern, wenn die Spitäler nicht überfüllt sind und nicht klar ist, wie hoch etwa das Ansteckungsrisiko auf Restaurantterrassen tatsächlich ist. Auch in den Niederlanden schob ein Gericht schon im Februar einer Ausgangssperre den Riegel vor.
Die ESC-Besucher wissen, dass sie gewissermassen als «Versuchskaninchen» fungieren. Allerdings ist das Experiment nicht risikofrei: Die Niederlande stehen auf der BAG-Quarantäneliste, die Fallzahlen sind aktuell mehr als doppelt so hoch wie in der Schweiz, die Impfquote mit erst 31 verteilten Dosen pro 100 Einwohnern ähnlich niedrig. Maximal 900 Covid-Intensivpatienten hatte die niederländische Regierung als kritische Grenze gesetzt – am Tag der Entscheidung für das ESC-Experiment waren es 813.
Am Montag in einer Woche geht es mit der ersten Show los. Gleich zwei Song-Titel heissen in diesem Jahr passend: Amen.