Seit Tagen spielen russische Medien die Berichte hoch: Ukrainische Truppen sollen russische Kriegsgefangene aus nächster Nähe erschossen haben. Im Internet kursieren zwei 30-sekündige Videos, die am Boden liegende russische Kriegsgefangene zeigen. Einer nach dem anderen sind sie mit erhobenen Händen aus einer Hütte getreten und haben sich ergeben. Mit dem Gesicht nach unten liegen sie in einem Hinterhof auf dem Boden. Plötzlich stürmt eine Gestalt aus der Hütte – ein Russe – und eröffnet das Feuer. Das Video bricht abrupt ab. Das zweite Video zeigt die Leichen der russischen Soldaten in Blutlachen.
Kiew hat Berichte über die angebliche Hinrichtung durch ukrainische Soldaten zurückgewiesen. Vielmehr hätten sich die eigenen Truppen gegen die Russen zur Wehr gesetzt, erklärte der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Dmitro Lubinez, am Sonntag auf Telegram. Die Russen hätten ihre Kapitulation nur vorgetäuscht, so Lubinez. Er dementiert die Tötung der Gefangenen nicht, suggeriert aber Selbstverteidigung.
Videos verifiziert
Diese Version der Ereignisse scheinen auch Spezialisten der «New York Times» zu bestätigen, die die Videos mit aufwendiger Recherchearbeit verifiziert haben. Ihre detaillierte Analyse stützen sie zudem auf Drohnenvideos der ukrainischen Streitkräfte. Bilder zeigen den genauen Ort und auch die Leichen im Hinterhof. Das Fazit der Recherchen: «Mindestens 11 Russen, von denen die meisten am Boden liegen, wurden offenbar aus nächster Nähe erschossen.» Dies, «nachdem einer ihrer Mitstreiter plötzlich das Feuer auf in der Nähe stehende ukrainische Soldaten eröffnet hatte».
Die eigentliche Tat, die sich Mitte November in Luhansk ereignet haben soll, ist nicht zu sehen. Doch «es kann gut sein, dass sie alle als Kriegsgefangene gefangen genommen worden wären und überlebt hätten, wenn der Mann nicht geschossen hätte», wird Iva Vukusic zitiert, Expertin für die Verfolgung von Kriegsverbrechen an der Universität Utrecht.
Uno untersucht Berichte
Das russische Verteidigungsministerium fordert seit Auftauchen der Videos eine Untersuchung wegen «Kriegsverbrechen». Moskau spricht von der «vorsätzlichen und methodischen Ermordung von mehr als zehn gefesselten russischen Soldaten». Eine Erklärung des Moskauer Aussenministeriums am Freitag wirft der Ukraine «schwere Verstösse gegen humanitäres Völkerrecht» vor.
Lubinez dagegen beschuldigt die Russen ihrerseits eines «Kriegsverbrechens». Ausschnitte eines Videos würden klar zeigen, dass die russischen Soldaten eine «vorgetäuschte Kapitulation nutzten», um «das Feuer auf die ukrainischen Streitkräfte zu eröffnen».
«Die Videos sind uns bekannt, und wir untersuchen sie», erklärte Marta Hurtado, Sprecherin des Uno-Menschenrechtsbüros, am Freitag. Die Uno-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine hatte unlängst mitgeteilt, ihr lägen glaubwürdige Berichte über Folter und Misshandlungen von Kriegsgefangenen und Zivilisten auf beiden Seiten vor. (kes)