Auch in Afrika waren die Intensivstationen zeitweise mit Corona-Patienten überfüllt. Doch mittlerweile hat sich die Situation vielerorts beruhigt, obwohl auf dem Kontinent nur ganz wenige Menschen gegen Corona geimpft sind.
Über das Corona-Wunder von Afrika rätselt die Wissenschaft. Neue Studien zeigen nun, dass sich in Afrika teilweise die Mehrheit der Bevölkerung bereits mit dem Coronavirus infiziert hat. Trotzdem bleibt die Zahl der Corona-Todesfälle im Vergleich zu Europa oder den USA gering.
Spital in Kenia schloss Corona-Station
Die Verantwortlichen des M.P.-Shah-Krankenhauses in Kenias Hauptstadt Nairobi konnten unlängst sogar die gesamte Corona-Station schliessen. Die Leiterin der Infektionsabteilung, Shamsa Ahmed, sagt dem «Spiegel»: «Seit drei Wochen mussten wir nicht einen einzigen Patienten aufnehmen. So ruhig war es noch nie seit Beginn der Pandemie.» Vor vier Monaten habe es noch ganz anders ausgesehen: In dem Spital seien drei Etagen mit Corona-Patienten gefüllt gewesen.
In Kenia wurde eine nächtliche Ausgangssperre inzwischen aufgehoben, die Bars und Clubs sind wieder geöffnet, die Menschen tanzen wieder. Trotzdem gibt es nur noch wenige Neuinfektionen – bei einer Impfquote von sechs Prozent.
Durchseuchung weit fortgeschritten
Der kenianische Epidemiologe Isaac Ngere, der für die Washington State Universität in den USA arbeitet, beschäftigt sich mit dem Coronavirus in Afrika. Er ist einer von vielen Wissenschaftlern, die anhand von Antikörpertests gemessen haben, wie viele Menschen sich auf dem Kontinent seit Ausbruch der Pandemie infiziert haben. Ngere testete Tausende Einwohnerinnen und Einwohner in Kenia in mehreren Phasen, unter anderem im Slum Kibera in der Hauptstadt Nairobi. Dort konnte sich das Virus weitestgehend ungehindert ausbreiten, weil es den Bewohnern nicht möglich war, sich an Corona-Massnahmen zu halten.
«Im Mai und Juni lag die Durchseuchung dort bei 66 Prozent. Das war vor der heftigen Delta-Welle. Ich bin mir sicher, dass die Werte in Nairobi inzwischen bei mehr als 70 Prozent liegen», sagt Ngere. «Das ist schon fast Herdenimmunität.» Dem Bericht zufolge zeigt Ngeres Studie zudem, dass die Fallsterblichkeit zum Untersuchungszeitpunkt 20 Mal niedriger war als in anderen Ländern, zum Beispiel in Europa oder den USA. «Das ist schon erstaunlich», sagt der Wissenschaftler.
Junges Durchschnittsalter, vergleichbare Viren
Laut «Spiegel» geht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, dass mindestens 40 bis 50 Prozent der Einwohner südlich der Sahara bereits mit Corona infiziert waren. WHO-Impfexperte Richard Mihigo: «Es gab offenbar viele asymptomatische Verläufe, das hat wohl zur niedrigen Sterblichkeit beigetragen.»
Die hohe Durchseuchung sei wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum man momentan so wenig Fälle sehe, sagt Immunologe Ngere. Eine Erklärung für die vergleichsweise wenigen Todesfälle könnte auch das junge Durchschnittsalter der Bevölkerung sein. Auch Krankheiten wie Diabetes und Übergewicht, die sich erschwerend auf eine Corona-Infektion auswirken, sind in Afrika seltener als in Europa oder in den USA.
Doch der Epidemiologe hat noch eine Vermutung: «Vor allem in Zentral- und Ostafrika kursieren viele vergleichbare Viren, auch ähnliche Coronaviren. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind ihnen viel häufiger ausgesetzt als beispielsweise in Europa. Daher gehen wir davon aus, dass viele eine Art Kreuz-Immunität entwickelt haben, die nun auch gegen Sars-Cov-2 schützt.»
Statistische Unabwägbarkeiten
Die Impfkampagne müsse trotz allem ungebremst weitergehen, sagt Ngere. Schliesslich wisse man nicht, wie lange der Schutz der natürlichen Antikörper anhalte.
Allgemein muss man bei den Untersuchungen zu Corona in Afrika festhalten, dass es grosse Unsicherheiten bezüglich der verfügbaren Daten gibt. Das räumt auch Ngere bei seiner Studie ein. So ist etwa davon auszugehen, dass die tatsächlichen Sterberaten wesentlich höher liegen als offiziell vermeldet – viele Tote werden begraben, ohne dass die Todesursache jemals untersucht wird. Auch wird die Übersterblichkeit etwa in Kenia statistisch gar nicht erfasst. (noo)