Jeder stolpert mal über einen Sandsack. Dem Präsidenten der USA sollte das aber nicht passieren – zumindest nicht vor laufenden Kameras auf einer Bühne. Genau das hat Joe Biden (80) aber in Colorado geschafft. Diese schusselige Menschlichkeit ist gefundenes Fressen für Republikaner, um sich wieder einmal über Biden lustig zu machen.
Biden hat es auch sonst nicht leicht. Seine Präsidentschaft ist geprägt von nationalen und internationalen Katastrophen: die Nachwehen der Corona-Pandemie, ein brutaler Krieg in Europa und eine drohende Schuldenkrise, die die USA ins finanzielle Chaos stürzen könnte.
Nach seinem Sandsack-Malheur hüpfte er über den Rasen des Weissen Hauses – um zu beweisen, dass er noch immer voller Elan ist, trotz Stolpern. Auf politischer Ebene macht er es genauso: Krisen bewältigt er beinahe im Hintergrund, während er im Vordergrund zu zaghaft wirkt. Danach verbucht er einen Erfolg.
Biden punktet mit Zurückhaltung
Bidens politisches Geheimnis? Er wird von seinen politischen Gegnern nicht ernst genommen. Was wie eine Schwäche klingen mag, kann auch eine Stärke sein. Er nutzte sie, um die Nominierung der Demokraten im Jahr 2020 zu gewinnen; er nutzte sie, um das seltene Kunststück zu vollbringen, einen amtierenden Präsidenten zu stürzen.
Während seiner Präsidentschaft hat er es geschafft, einen überparteilichen Deal nach dem anderen abzuschliessen: ein Mega-Paket zur Erneuerung der landesweiten Infrastruktur. Milliarden von Dollars an Ukraine-Unterstützung. Sein jüngster Streich: die Einigung im US-Schuldenstreit.
All das war nur möglich, weil die Republikaner ihn zu wenig respektieren und ihm auch mal einen Sieg gönnen können. Aber: Das deutsche Magazin «Spiegel» betitelte Biden kürzlich gar als den «erfolgreichsten US-Präsidenten seit Jahren».
Eine Möglichkeit, die seinen Vorgängern Donald Trump (74) und Barack Obama (61) verwehrt blieb. Trump agierte wie ein Bulldozer, ohne Rücksicht auf die Opposition. Obama war zu mächtig und die Republikaner wollten ihm eben keinen zusätzlichen Sieg gönnen.
Die amerikanische Bevölkerung dankt es ihm nicht
Mit seinen innen- und aussenpolitischen Erfolgen fliegt Biden aber unter dem Radar der Wähler. Laut aktuellen Zahlen von «Fivethirtyeight» – ein Projekt, das Umfrageergebnisse zusammenfasst – finden 55 Prozent der Amerikaner ihn nicht gut.
Die «Washington Post» titelte kürzlich: «Unterschätzen Sie Biden auf eigene Gefahr.» Und soll damit recht behalten. Biden ist nicht zu alt, er ist nicht zu erfolglos oder zu zahnlos für eine zweite Amtszeit. Der älteste Präsident der amerikanischen Geschichte wird schlicht und einfach unterschätzt. Und das ist seine politische Superkraft.