Jean Ziegler über das Flüchtlingselend auf Lesbos
«Was die Schweiz macht, ist eine Schande!»

Jean Ziegler kennt Moria. In seinem Buch darüber nennt er das Flüchtlingslager «die Schande Europas». Ziegler findet: Ein Wiederaufbau ist keine Option.
Publiziert: 12.09.2020 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 19.09.2020 um 15:44 Uhr
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Jean Ziegler in Moria: «Der Flüchtling wird als Gefahr, nicht als hilfesuchender Mensch gesehen.»
Foto: medico international
Interview: Fabienne Kinzelmann

SonntagsBlick: Herr Ziegler, der Bundesrat holt zwanzig unbegleitete Minderjährige in die Schweiz. Wie finden Sie das?
Jean Ziegler
: Ich möchte am liebsten sagen: Das ist eine Schande. Aber so kann man ja nicht antworten.

Warum nicht?
Wir müssen uns über jedes Kind freuen, das aus der Hölle von Moria gerettet wird. Andererseits ist es eine Schande, dass das zweitreichste Land der Welt nur zwanzig von Tausenden unbegleiteten Flüchtlingskindern von den griechischen Inseln aufnimmt.

Warum sind die Kinder allein in den Lagern?
Sie haben einen Angriff auf ihr Haus in ihrem Heimatland überlebt, wurden auf der Flucht von ihrer Familie getrennt oder haben Schiffbruch erlitten und die anderen Familienmitglieder sind gestorben.

Wie leben die Kinder jetzt?
Kinder brauchen Sicherheit, Bildung und Schutz vor sexueller Ausbeutung. All diese Kriterien werden verletzt. Sie leben in riesigen Zelten mit 15 Personen, werden häufig sexuell belästigt. Sie haben niemanden, der sie verteidigt. Eine Schule gibts nicht. Die Kleinen spielen im Schlamm, die Grossen stehen an der Mauer – und warten, warten, warten. Wenn die Verzweiflung zu gross wird, stechen sie sich dann mit Messern in die Arme und Beine. Selbstverletzung und Selbstmord sind der letzte Hilfeschrei total verzweifelter Kinder.

Jean Ziegler

Der emeritierte Soziologie­professor Jean Ziegler (86) ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Im Mai 2019 besuchte er das Flüchtlingslager Moria – Grundlage für sein Buch «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten». Ziegler ist Berater des UN-Menschenrechtsrats.

Der emeritierte Soziologie­professor Jean Ziegler (86) ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Im Mai 2019 besuchte er das Flüchtlingslager Moria – Grundlage für sein Buch «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten». Ziegler ist Berater des UN-Menschenrechtsrats.

Warum schaut Europa weg?
Die EU-Spitze besteht nicht nur aus hartherzigen Leuten. Aber die Zurückdrängung von Schlauchbooten mit Militärgewalt und die unmenschlichen Bedingungen auf den Inseln sollen andere Menschen in Not davon abhalten, die Flucht zu ergreifen. Deswegen bremsen europäische Regierungen auch aufnahmebereite Städte aus. Der Flüchtling wird als Gefahr, nicht als Hilfesuchender gesehen.

Sollte man Moria wieder aufbauen?
Wir haben immer die Evakuierung von Moria gefordert. Durch das Feuer ist sie de facto passiert. Die Zivilgesellschaft sollte jetzt aufstehen: Die Flüchtlinge müssen kollektiv – alle! – aufs Festland. Von dort werden sie verteilt auf die 27 EU-Mitgliedsstaaten.

Osteuropäische Staaten weigern sich.
Diese extremen, rassistischen Regierungen könnte man sofort zur Vernunft bringen. Es sind Bettelstaaten: Einige leben fast ausschliesslich vom EU-Kohäsionsfonds. Da hat auch die Schweiz 1,3 Milliarden Franken einbezahlt, das geht uns also etwas an. Und diese Gelder könnte man suspendieren.

Spielt es denn keine Rolle, dass die Geflüchteten das Lager möglicherweise selbst angezündet haben?
Von wo der Zündfunke kam, weiss noch niemand. Und es ist auch nicht wichtig, wenn mehr als 12’000 Menschen obdachlos sind – ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne medizinische Versorgung!

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