In den Krieg – für immer
Kiews Politiker fallen den Front-Kämpfern in den Rücken

Ein neues Gesetz hätte den ermüdeten ukrainischen Soldaten Hoffnung auf baldige Erholung bringen sollen. Doch jetzt stellt sich das Parlament quer. Die politischen Querelen kommen für die Ukraine im denkbar schlechtesten Moment.
Publiziert: 11.04.2024 um 18:44 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2024 um 08:54 Uhr
Viele ukrainische Soldaten sind nach mehr als zwei Jahren Kriegsdienst ausgelaugt.
Foto: Getty Images
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Russische Druckversuche entlang der gesamten Front, blockierte Militärhilfen und bald leere Munitionsdepots: Die Ukraine hat 777 Tage nach Wladimir Putins (71) brutalem Überfall an sich schon mehr als genug Probleme.

Jetzt aber fallen den Soldaten an der Front auch noch die eigenen Politiker in Kiew in den Rücken. Das ukrainische Parlament hat am Mittwoch einen Entscheid gefällt, der den ausgelaugten Kämpfern die letzte Hoffnung raubt.

Die Politiker in der Hauptstadt haben am Mittwoch eine Passage aus einem neuen Militärgesetz gestrichen, die es ukrainischen Soldaten erlaubt hätte, nach 36 Monaten im Kriegsdienst zurück nach Hause zu gehen. Die Dienstbefreiung nach so langer Zeit, die Aussicht aufs Nach-Hause-Gehen zur Familie war für viele eine zusätzliche Motivation zum Kämpfen.

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Viele ukrainische Soldaten sind nach mehr als zwei Jahren Kriegsdienst ausgelaugt.
Foto: Getty Images

Doch drei Jahre in der Kriegshölle sind den politischen Würdenträgern im Land offenbar nicht genug. Stattdessen müssen ukrainische Kämpferinnen und Kämpfer nun auf unbestimmte Zeit Dienst leisten. Hinter den Kulissen hatte das ukrainische Verteidigungsministerium auf die Streichung der zeitlichen Beschränkung gepocht, weil man sich eine weitere Ausdünnung der eh schon knappen personellen Ressourcen schlicht nicht leisten könne.

«Wir sind ihnen ausgeliefert»

Ein herber Dämpfer für die Hunderttausenden Männer und immerhin fast 65'000 Frauen in Uniform, die im Süden und Osten kämpfen und im Norden Wache stehen. «Die Kämpfer sind ausgelaugt und seelisch ermüdet. Das siehst du, wenn du ihnen in die Augen schaust», erzählt der ukrainische Militär-Experte Yevhen Semekjin (38) gegenüber Blick. «Sie tun in der verzweifelten Lage, was sie können. In Robotyne im Süden des Landes etwa kämpfen inzwischen sogar Bataillonskommandanten direkt an der Front, obwohl sie eigentlich aus ihren Posten raus Hunderte Soldaten kommandieren sollten.»

Igor (36), Kommandant einer Ingenieurskompanie in der Nähe des besetzten Awdijwka, baut mit seinen Leuten rund um die Uhr neue Verteidigungsgräben, um die vorrückenden Russen aufzuhalten. Auf Anfrage von Blick sagt er: «Alle 30 Minuten kommt wieder eine russische Drohne. Wir können uns nicht mehr bewegen, ohne sofort entdeckt zu werden. Gestern schossen sie einen unserer Bagger ab, heute einen Lastwagen. Wir sind ihnen ausgeliefert und können nicht einmal zurückschiessen.»

Die Lage ist so ernst, wie Igor sie wahrnimmt. Christopher Cavoli (60), Nato-Befehlshaber in Europa, sagte gegenüber der «Washington Post», die Russen würden den Ukrainern bis in wenigen Wochen zehnfach überlegen sein, was die verfügbare Munition anbelangt. «Jene Seite, die nicht zurückschiessen kann, wird verlieren. Die Ukraine hat bald keine Munition und Flugabwehrsysteme mehr.»

Sollen Frauen jetzt die Lücke füllen?

Das amerikanische Verteidigungsministerium bestätigt die düstere Ausgangslage: Wenn die USA die blockierten Militärmilliarden für die Ukraine nicht bald freigeben, seien alle Bemühungen der vergangenen zwei Jahre umsonst gewesen.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) selbst betonte Anfang Woche in einem Interview, dass sein Land ohne baldige neue Hilfe aus dem Westen verlieren könnte. Auf der Plattform Telegram forderte Selenski insbesondere die rasche Lieferung weiterer Patriot-Flugabwehrsysteme, «damit sie nicht bald schon entlang der gesamten Nato-Ostfront zum Einsatz kommen müssen».

Für Aufregung sorgte Selenskis Geschlechterbeauftragte für die ukrainischen Streitkräfte, Oksana Grigorieva (54). In einem Interview mit der britischen Zeitung «The Times» brachte Grigorieva die Idee ins Spiel, auch Frauen für den Kriegsdienst aufzubieten. «Unserer Verfassung hält fest, dass jeder Ukrainer die Pflicht hat, sein Heimatland zu schützen. Es ist also nur richtig, dass auch Frauen dienen», sagte Grigorieva.

Die Motivation der Ukrainerinnen, sich für die Armee einschreiben zu lassen, dürfte nach der jüngsten Gesetzesänderung aber nicht sehr gross sein.

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