Am Pier stehen Menschentrauben. Sie warten auf die Sea-Watch 3. Für die einen ist die Kapitänin des holländischen Flüchtlingsschiffes eine Heldin, für die anderen eine Verbrecherin. Gegen 1.45 Uhr dockt das Schiff an. Es gibt Applaus, aber die Buhrufe überwiegen.
Als die Guardia di Finanza dann Carola Rackete (31) abführt, entlädt sich der Hass des Mobs. «Ich hoffe, die Schwarzen schänden dich», schreit ein Mann der jungen Deutschen zu. Ein anderer schreit: «Ab mit dir in den Knast, Zigeunerin!» Und: «Verschwinde, Junkie!»
Hass und Hetze richten sich gegen die junge Deutsche, die es gewagt hat, sich den Befehlen von Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini (46) zu widersetzen. Am 12. Juni 2019 fischt Racketes Rettungsschiff 53 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Doch weder Malta noch Italien wollen sie.
Waghalsiges Manöver im Hafen von Lampedusa
Rackete will ihre erschöpften Passagiere nicht nach Libyen zurückbringen. Sie steuert Lampedusa an. Doch Italien verweigert ihr die Landeerlaubnis. Nur ein Dutzend Flüchtlinge (zwei Familien mit Kindern, Kranke und Schwangere) dürfen von Bord. Der Rest verharrt in der brütenden Hitze.
Salvini lässt die Sea-Watch 3 zwei Wochen lang schmoren. «Manche der Männer wollten sich ins Wasser stürzen. Sie können nicht schwimmen. Es wäre Selbstmord gewesen», erklärt Carola Rackete. Sie fasst einen riskanten Entschluss.
Trotz Hafensperrung setzt sie ihr Schiff in Bewegung. Ein viel kleineres Boot der Guardia di Finanza stellt sich dem 600-Tonnen-Schiff in den Weg. Rackete fährt weiter an die Mole. Es droht eine Kollision. Das Schnellboot der Zoll- und Steuerpolizei dreht ab. Später entschuldigt sich die Kapitänin für das waghalsige Manöver. Sie habe die Situation nicht richtig eingeschätzt.
Rackete drohen bis zu zwölf Jahre Haft
Für Lega-Chef Matteo Salvini ist dies ein «Kriegsakt». Zudem habe die Deutsche gegen sein neues Sicherheitsgesetz verstossen, was eine Geldbusse von bis zu 50'000 Euro zur Folge haben könnte. Auch Knast droht der Kapitänin, wegen Verstosses gegen Artikel 1100. Danach kann mit bis zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt werden, wer sich einem Kriegsschiff widersetzt. Um die zu erwartenden hohen Anwaltskosten zu stemmen, ruft der deutsche Kabarettist Jan Böhmermann (38) zu einer Spendenaktion auf. Fast eine halbe Million Euro sind bis gestern eingegangen.
Die Verhaftung sorgt europaweit für Empörung. «Menschenleben zu retten, ist eine Pflicht und sollte niemals ein Delikt sein», betont Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn. Sein deutscher Amtskollege Heiko Maas twittert: «Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden.» Auch der Vatikan mahnt: «Menschenleben muss um jeden Preis gerettet werden. Das ist der Polarstern, der uns führt», so Kardinal Pietro Parolin. Deutschland, Frankreich, Finnland, Portugal und Luxemburg hatten bereits am Freitag angeboten, Flüchtlinge des Schiffes aufzunehmen.