Die westlichen Verbündeten senden widersprüchliche Signale zum Krieg in der Ukraine aus. Wie der Konflikt enden und wieder Frieden herrschen soll, darüber scheint unter Europas politischen Entscheidungsträgern Uneinigkeit zu herrschen. Dies, während es für die Ukraine jeden Tag schwieriger scheint, den russischen Vormarsch zu stoppen.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (63) musste diese Woche viel Kritik für einen Tweet einstecken. In der Ukraine tobt der Krieg. Menschen sterben. Und Scholz warf die Frage auf, ob Gewalt mit Gewalt bekämpft werden dürfe und ob sich Frieden nur ohne Waffen schaffen lasse. «Wir sollten beides mit Respekt diskutieren», so Scholz. «Klar ist aber: Wir stehen der Ukraine bei, damit Gewalt sich nicht als Mittel durchsetzt.»
«Leeres Geschwätz», kritisierte der CDU-Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig (48). Scholz, der wohl mächtigste Politiker Europas, hat bislang auch kein klares Bekenntnis zu einer militärischen Unterstützung für die Ukraine geliefert. «Trotz Versprechungen liefert Deutschland seit neun Wochen kaum Waffen an die Ukraine», empört sich «Die Welt».
Selenski äussert erstmals Zweifel
Dies, während der russische Kriegspräsident Wladimir Putin (69) die Kriegspolitik diktiert. Der Kreml-Chef warnte Scholz vor Waffenlieferungen an die Ukraine und russisches Öl und Gas fliessen weiter nach Europa. Moskau erwirtschaftet hohe Mehreinnahmen durch den Export von fossilen Brennstoffen, die nicht zuletzt die Kriegsmaschinerie schmieren.
Wenigstens die Amerikaner versuchen, auf Worte Taten folgen zu lassen. Schon nächste Woche wollen sie der Ukraine Langstreckenraketen liefern, um Stellungen im Donbass zu verteidigen. Dies berichtet das «Wall Street Journal». Die Antwort darauf aus Moskau erfolgte prompt und scharf. Waffen, die auch russisches Territorium erreichen könnten, wären ein «Schritt in Richtung einer inakzeptablen Eskalation», warnte Russlands Aussenminister Sergei Lawrow (72) laut der staatlichen Nachrichtenagentur «Tass».
Inzwischen räumt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) erstmals ein, dass wohl nicht alle verlorenen Gebiete mit Gewalt zurückerobert werden können. «Ich glaube nicht, dass wir unser gesamtes Territorium mit militärischen Mitteln zurückgewinnen können», sagt Selenski in einem von seinem Büro im Internet veröffentlichten Interview.
Westliche Länder stecken Positionen zum Endspiel ab
Nach chaotischen ersten Kriegswochen auf russischer Seite scheint die Strategie der Besatzer zu greifen, von Osten her gegen die Ukraine vorzurücken. Der komplette Fall des Donbass' scheint bloss noch eine Frage der Zeit. Ab einem Punkt, zusammen mit der sich verschärfenden Versorgungs- und Lebensmittelkrise, drohen Gebiete wie Dominosteine zu fallen.
Der russische Bär bewegt sich langsam, doch unaufhaltsam. Der Krieg, beteuerte Selenski noch, werde auf dem Schlachtfeld gewonnen, könne aber nur durch Verhandlungen beendet werden. Wann mit Kämpfen aufhören? Zu welchen Bedingungen? Nach bald 100 Tagen Gefechten stecken westliche Länder Positionen zum Endspiel ab. Und sie scheinen bemüht, mit Russland nicht ganz zu brechen.
Am Samstag sprachen Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (44) in einem Telefonat mit Putin. «Der Bundeskanzler und der französische Präsident drängten dabei auf einen sofortigen Waffenstillstand und einen Rückzug der russischen Truppen», wie es von deutscher Seite hiess.
Putin gibt den Ton an
Scholz und Macron forderten Verhandlungen. Putin, so hiess es, wolle die «durch die Schuld Kiews» eingefrorenen Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts offenbar erwägen. Dabei warnte der Kreml-Chef vor «gefährlichen» Waffenlieferungen, und dass sich «die Situation in der Ukraine weiter destabilisiert und die humanitäre Krise verschärft».
Die Zeit scheint auf Putins Seite, während sich die Debatte um die Kosten, Risiken und Vorteile einer Verlängerung des Krieges zu drehen beginnt. Und: Welchen Platz Russland in Zukunft in der europäischen Ordnung einnehmen soll.
Deutschland pocht auf einen Waffenstillstand. Italien schlägt einen Vier-Punkte-Friedensplan vor. Frankreich will ein zukünftiges Friedensabkommen, das Russland nicht «demütigt».
Gespaltene Europäer
Angeführt von den Briten, setzen vorab Polen und die baltischen Staaten auf Krieg, während der wichtigste Unterstützer der Ukraine, Washington, noch kein klares Ziel formuliert hat. Die USA haben bislang fast 14 Milliarden Dollar (13,4 Milliarden Franken) für den Krieg ausgegeben. Der Kongress hat eben weitere 40 Milliarden Dollar bereitgestellt. Unbegrenzt ist die Hilfe der Amerikaner nicht. Sie haben zwar Artillerie geliefert, aber noch nicht die von Selenski geforderten Raketensysteme mit grösserer Reichweite.
Zwar leisten die Ukrainer grossen Widerstand und erlauben den Russen keine leichten Eroberungen. Auch neue westliche Waffen tauchen an der Front auf. Doch unter Europas politischen Entscheidungsträgern machen sich bereits Ermüdungserscheinungen zum Krieg breit. Selenskis Chefunterhändler Mychajlo Podoljak (50) äusserte sich zunehmend besorgt über die «Müdigkeit» in einigen europäischen Ländern. «Sie sagen es nicht direkt, aber es fühlt sich wie ein Versuch an, uns zur Kapitulation zu zwingen», zitiert ihn der «Economist».
«Wenn der Westen wirklich den Sieg der Ukraine will, ist es vielleicht Zeit, uns Langstrecken-Mehrfachraketenwerfer zu geben», teilte Podoljak am Samstag auf Twitter mit. Sogenannte MLRS sind in den USA hergestellte Artilleriesysteme. «Es ist schwer zu kämpfen, wenn man aus einer Entfernung von 70 Kilometern angegriffen wird und nichts hat, womit man sich wehren kann», meinte Podoljak.
Moskau hat keine Eile
Moskau bekundet keine Eile, einen Waffenstillstand abzuschliessen. Wann der Krieg endet, hängt wohl vorab von Putin ab. Dieser scheint entschlossen, den gesamten Donbass im Osten zu erobern, und weiteres Land im Westen einzunehmen.
Moskau würde wohl erst nachgeben, wenn es in eine Pattsituation gedrängt wird. Doch die anfängliche Empörung über die russische Invasion und die Bereitschaft zum Handeln scheinen sich im Westen bereits beträchtlich gelegt zu haben. Oder wie Macron es sagt: Langfristig werde Europa einen Weg finden müssen, mit Russland zu leben.