Gegenschlag könnte Atomkatastrophe bedeuten
Atomkraftwerk Saporischschja dient Russen als Schutzschild

Russische Truppen haben Europas grösstes Kernkraftwerk in eine Festung verwandelt. Ukrainische Streitkräfte sind machtlos, die Bevölkerung um Saporischschja verunsichert. Denn: Ein ukrainischer Gegenschlag könnte die Nuklearkatastrophe bedeuten.
Publiziert: 01.08.2022 um 21:06 Uhr
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Aktualisiert: 02.08.2022 um 07:42 Uhr
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Foto: Wikipedia / Ralf1969

Das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja ist das leistungsstärkste AKW Europas, seit dem 4. März von russischen Truppen besetzt und seit Mitte Juli eine wahre Festung für russische Soldaten. Wie ukrainische Militär- und Zivilbeamte berichten, feuern die Russen seit Mitte Juli aus der Deckung des Kraftwerks Raketen über den Fluss auf die Grossstadt Nikopol und andere Ziele ab, wie «New York Times» berichtet.

Das AKW-Gelände, das sich bereits seit Anfang unter russischer Kontrolle befindet, hat sich über den Juli in eine regelrechte Festung verwandelt. Bereits vor zwei Wochen berichteten Reporter des «Wallstreet Journal» von russischen Artillerie-Geschützen, die sich rund um das AKW befänden.

Und die Ukraine? Kann nur zuschauen, denn: Mit einem Gegenangriff würde man riskieren, einen der sechs Reaktoren oder die gelagerten hoch radioaktiven Abfälle zu treffen. Russland scheint sich der Problematik genau bewusst zu sein. «Sie verschanzen sich dort, damit sie nicht getroffen werden können», sagte Oleksandr Sayuk, der Bürgermeister von Nikopol, zur Zeitung. «Warum sonst sollten sie sich im Elektrizitätswerk aufhalten? Ein solches Objekt als Schutzschild zu benutzen, ist sehr gefährlich.»

Saporischja stellt grosses Problem für Ukrainer dar

Auch der US-Aussenminister Antony Blinken (60) kritisierte am Montag die russische Taktik. Dies verleihe der Idee eines «menschlichen Schutzschildes» eine ganz neue, furchtbare Bedeutung, sagte Blinken.

Die Angriffe aus dem Atomkraftwerk erschweren die Pläne der Ukraine im Süden. Die ukrainische Armee kündigt seit mehr als zwei Monaten einen Gegenangriff am Westufer des Dnjepr an, mit dem Ziel, die Stadt Cherson zu befreien. Während der Gegenangriff an Fahrt aufnimmt, befinden sich die ukrainischen Truppen vor Saporischschja in einer Zwickmühle – angreifen und eine nukleare Katastrophe riskieren? Oder nicht angreifen und den eigenen Fortschritt riskieren?

Zwar könne nur ein direkter Treffer mit einer sehr starken Waffe die meterdicken Betonbehälter der Reaktoren durchdringen, so die Zeitung, doch: in diesem Fall bestünde die Gefahr einer Kernschmelze oder Explosion, durch die sich die Strahlung in der Ukraine und darüber hinaus ausbreiten könnte, wie es 1986 in Tschernobyl, der schlimmsten Nuklearkatastrophe der Welt, geschah. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass eine Granate die in Betonbehältern gelagerten hoch radioaktiven abgebrannten Brennelemente treffen und die Strahlung wie eine schmutzige Bombe lokal in der Luft verteilen könnte.

Bevölkerung befürchtet nukleare Katastrophe

Die Möglichkeiten der ukrainischen Armee, in Nikopol Vergeltung zu üben, sind also begrenzt. Dies ist ein Problem, das die Ukraine lösen muss, wenn sie Truppen und Ausrüstung für die Gegenoffensive in das Gebiet verlegt. Eine Taktik, die sie ausprobiert hat, ist die Durchführung von Präzisionsangriffen, die das Risiko einer Beschädigung der Reaktoren so weit wie möglich vermeiden. So meldete der ukrainische Militärgeheimdienst am 22. Juli einen Angriff mit einer Kamikaze-Drohne, bei dem eine Flugabwehranlage und ein Grad-Raketenwerfer in die Luft gesprengt und Soldaten in einem Zeltlager etwa 150 Meter von einem Reaktor entfernt getötet wurden.

Die Kämpfe in der Nähe des Kraftwerks haben die Befürchtung wieder aufleben lassen, dass der Krieg zu einer Freisetzung von Radioaktivität führen könnte. Als die russische Armee im März die Anlage in Saporischschja einnahm, entfachten die Kämpfe ein Feuer – und eine Menge Sorgen um die nukleare Sicherheit. Bei diesen Kämpfen wurde der Sicherheitsbehälter des ersten Reaktors von einem Schrapnell getroffen, aber nicht beschädigt. Drei der sechs Reaktoren sind jetzt in Betrieb, die anderen sind abgeschaltet oder werden repariert. (chs)

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