Absperrungen, meterhohe Barrieren, Anti-Terror-Poller. Und in diesem Jahr auch noch Impfpass-Kontrollen. Der Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz ähnelt einer Festung. Wegen Corona – aber vor allem wegen des Attentats, das Glühwein, Bratwürsten und gebrannten Mandeln von der deutschen Hauptstadt bis nach Zürich die Leichtigkeit genommen hat.
Am 19. Dezember 2016 stahl der Islamist Anis Amri (†24) einen Sattelschlepper und steuerte ihn mit Karacho über den Weihnachtsmarkt. Mit einem in diesem Jahr an den Folgen verstorbenen Ersthelfer liegt die Zahl der Todesopfer bei 13. Mehr als hundert Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Es war der bis dahin schwerste islamistische Terroranschlag in Deutschland.
«Ich krieg Gänsehaut, wenn ich nur daran denke», sagt Verkäuferin Manuela (55). «Ich hatte gerade Feierabend und war eine Minute vorher über genau die Kreuzung gelaufen, über die der Attentäter fuhr.»
«Wer hier etwas anstellen will, kommt rein»
Über den Platz dudeln «Rudolph, the Red-Nosed Reindeer» und «White Christmas». Doch die Stimmung ist an diesem trüben Nachmittag kurz vor dem fünften Jahrestag beklommen. Die Sorge vor dem Terror feiert mit.
«Ich war noch am Tag vorher mit meinen Eltern hier», sagt Marie (16), eine Schülerin. Sie habe den Ort fünf Jahre lang gemieden. Auch jetzt fühle es sich «komisch» an, hier zu sein. Die Sicherheitsmassnahmen verstärkten das Gefühl noch. Halbherzig kommen sie vielen vor, nicht mal eine Taschenkontrolle gibt es. «Wer hier etwas anstellen will, kommt doch auch jetzt noch rein», sagt Renate Myrenne-Petzold (77), die den Weihnachtsmarkt jedes Jahr mit ihrem Mann Peter Petzold (81) besucht.
Am Tag des Attentats ass das Berliner Ehepaar hier noch Reibekuchen. «Und abends fährt der hier mit dem LKW rein. Nicht zu glauben», sagt Peter Petzold und schaut auf das Mahnmal; ein goldener Riss, der sich über den Boden bis hoch zur Gedächtniskirche zieht. Auf den Stufen sind Namen und Herkunftsländer der Opfer dessen eingraviert, was vor fünf Jahren hier passiert ist.
Petzold ist fassungslos, wenn er an das Attentat denkt. Und wütend. «Das Schlimme an der ganzen Geschichte ist, dass unsere Polizei nicht in der Lage war, das zu verhindern, obwohl sie genau wusste, was für eine Scheisse hier abläuft. Da platzt mir der Kragen.»
Anis Amri war ein Gefährder – und wurde nicht gestoppt
Das Breitscheidplatz-Attentat gilt als Zäsur. Auch in der Schweiz sind Weihnachtsmärkte seit diesem Attentat mit Betonklötzen gesichert.
Besonders verheerend aber ist, dass der Attentäter den Behörden bekannt war. Über Italien und die Schweiz erreichte der Tunesier Anis Amri Deutschland mit der Flüchtlingswelle 2015. Er narrte den Staat, meldete sich unter verschiedenen Identitäten, beantragte mit mehreren Namen Sozialleistungen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn als Gefährder im Auge, hielten es dann aber für unwahrscheinlich, dass er sich Waffen besorgen werde. An einen entführten LKW als Anschlagswaffe dachte niemand.
Für den Genfer Terrorismusexperten Jean-Paul Rouiller war der Anschlag «brutal, aber keine Überraschung». «Die Geheimdienste wussten spätestens ab Ende 2014, dass der Islamische Staat solche Attacken plant und dass Einzeltäter durchs Netz schlüpfen können.»
Davon zeugten auch die islamistisch motivierten Messer-Angriffe in Morges VD und Lugano TI im vergangenen Jahr. «Die Bedrohung ist heute sogar noch grösser. Solche Angriffe nehmen sich andere radikalisierte Personen zum Vorbild, und im Internet finden sie Anleitungen», sagt Rouiller zu SonntagsBlick.
Im Juni dieses Jahres sagte die Schweiz Ja zum Anti-Terror-Gesetz, mit dem Gefährder besser kontrolliert werden sollen. «Aber radikalisierte Einzelpersonen, die nicht zu einem grossen Netzwerk gehören, sind schwierig zu erfassen», so Rouiller.
Hintermann war offenbar hoher IS-Funktionär
Anis Amri wurde vier Tage nach der Tat in Italien erschossen. Politisch ist der Schlussstrich mit dem im vergangenen Sommer veröffentlichten Untersuchungsbericht gezogen, doch abschliessend geklärt ist der Vorfall nicht. Wo haben die Sicherheitsbehörden Fehler gemacht? Wer befahl Amri den Anschlag?
Erst in diesem Jahr enthüllten Recherchen des deutschen TV-Senders RBB den mutmasslichen Hintermann: Ali Hazim Aziz (etwa 45), ein hoher IS-Funktionär aus dem Irak. Bei den deutschen Sicherheitsbehörden versandeten Hinweise darauf offenbar.
Manche Opfer und Hinterbliebenen belastet die lückenreiche Aufarbeitung. «Wir haben eigentlich das Gefühl, dass wir nie wirklich wissen werden, was passiert ist und warum dieser Anschlag stattfinden konnte», sagt der Ersthelfer Gerhard Zawatzki in einer neuen ARD-Doku. «Wir versuchen, mit der Kraft, die wir noch haben, den Terroranschlag für uns aufzuarbeiten und innere Ruhe zu finden», sagt Astrid Passin, die ihren Vater durch den islamistischen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz verlor.
Die Nachwehen des Attentats
«Es wäre schön, die Betroffenen hätten mehr erfahren können. Leider ist die Arbeit eines Untersuchungsausschusses dahingehend begrenzt, dass man andere Interessen berücksichtigen muss. Das ist für die Betroffenen natürlich ein schlimmes Erlebnis», sagt der Opferbeauftragte Roland Weber. Er half Hinterbliebenen, körperlich und psychisch Verletzten und Weihnachtsbuden-Besitzern, ihre Ansprüche geltend zu machen.
Für einige der Opfer sei der Abschluss der furchtbaren Tat auch deswegen so schwer, weil in der Anfangszeit verletzende Fehler gemacht wurden: etwa, dass bereits Gedenkgottesdienste gefeiert wurden, bevor überhaupt alle Hinterbliebenen über den Tod von Angehörigen informiert wurden. Heute, so Weber, ginge es den meisten Opfern aber wieder gut.
Ein Gefühl, das auch Martin Germer teilt. Er ist Pfarrer in der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz. «Bei unserem Gedenkgottesdienst dieses Jahr wird zum ersten Mal eine Hinterbliebene sprechen. Es ist inzwischen so, dass Hinterbliebene die innere Freiheit haben, sich aktiv zu beteiligen. Das ist ein guter Schritt.»