Staten Island, New York. Charlie Blaich (75) empfängt das Blick-Team bei sich zu Hause, in einem schönen, rund hundert Jahre alten Haus in einer ruhigen Nachbarschaft. Wir haben uns verabredet, um mit dem ehemaligen Kommandanten der New Yorker Firefighter über seinen grössten Einsatz zu sprechen. Nur wenige Gegenstände im Haus deuten auf Blaichs Vergangenheit hin – und auf seine bedeutende Rolle als einer der Einsatzleiter nach den Terroranschlägen am 11. September 2001.
Blick: Was sind Ihre Gedanken und Gefühle, wenn Sie an den 20. Jahrestag denken?
Charlie Blaich: Das ist mir sehr nah. Hier in meiner Nachbarschaft ist fast jede Strasse nach Feuerwehrleuten oder Polizisten benannt, die an diesem Tag ihr Leben verloren haben. Erst gestern hat die Kirche hier einen pensionierten Feuerwehrmann beerdigt, der an Krebs gestorben ist – eine Folge von 9/11.
Sie waren an diesem Tag eigentlich noch krankgeschrieben. Man hatte Ihnen einen Tumor am Rücken entfernt, und obendrauf hatten Sie sich noch eine Atemwegsinfektion eingehandelt.
Ja, ich döste. Dann rief mein Bruder an und sagte, dass ein Flugzeug ins World Trade Center (WTC) geflogen sei. Ich schaute aus dem Fenster, sah diesen perfekt blauen Himmel: Wie soll bitte ein Flugzeug ins WTC geflogen sein?
Was passierte dann?
Ich wollte mit, aber weil meine Uniform in meiner Feuerwache in Brooklyn hing, schnappte ich mir den Helm meines Vaters. Wir nahmen die Fähre von Staten Island rüber nach Downtown, die fuhr nur noch für Cops und Feuerwehrleute. Aus der Entfernung sah ich einen der Türme brennen. Auf halber Strecke fiel der Südtower zusammen.
Die Art und Weise, wie die Türme nach den Anschlägen zusammenfielen, ist Gegenstand von Verschwörungstheorien. Kam Ihnen irgendwas ungewöhnlich vor?
Nein. Als junger Feuerwehrmann wurde ich mal zum WTC geschickt, um mich mit diesem neuen Gebäude vertraut zu machen. Es war noch im Bau, und ich erinnere mich, wie einer der Konstrukteure auf einen Teil zeigte und sagte: «Achtet hier darauf – wenn das anfängt, zusammenzubrechen, geht das Gebäude gerade runter.» So sei das gebaut.
Wie gingen Sie vor?
Als wir mit der Fähre anlegten und von Bord gingen, applaudierten uns Tausende von Menschen. Sie standen bereit, um die Fähre in die andere Richtung zu nehmen. Die Küstenwache organisierte die Evakuierung raus aus Manhattan. Mein Bruder nahm eine Crew und ging nach Osten, wo seine Feuerwache lag. Ich nahm eine Crew und ging nach Westen. Auf dem Weg trafen wir einen Bauunternehmer, bei dem wir uns Werkzeuge mitnehmen durften.
Werkzeuge wofür?
Ich hatte die Hoffnung, wir könnten da vielleicht noch nach Verschütteten graben oder so, aber das war natürlich vergebens. Ich bekam ein paar Funkgeräte und wir arbeiteten uns auf der westlichen Seite nach oben. Dabei trafen wir auf einen unserer Feuerwehr-Ärzte, der aussah, als hätte man ihm eine Tüte Mehl über den Kopf geleert und ihn geschüttelt. Er hat nur gesagt: «Nehmt euch eine Maske! Tragt eine Maske!» Da stand auch ein Krankenwagen, da haben wir diese simplen Atemschutzmasken genommen und aufgezogen. Und dann kamen wir endlich an – gerade, als das zweite Gebäude einstürzte.
Was erwartete Sie?
Ich hatte natürlich eine vernünftige Hose und gute Schuhe, aber es war extrem. Der Ground Zero bestand nur noch aus Trümmer-Schluchten. Noch Monate später haben wir glühenden Stahl rausgezogen.
Wie entschieden Sie in diesem Moment, wo Sie anfangen?
Offiziell war es eine Rettungsmission, aber mir war klar, dass es fast nur noch um Bergungen von Leichen geht. Auch die meisten Stabschefs waren im Feuer oder beim Einsturz umgekommen. Ich war eigentlich nur stellvertretender Stabschef, aber koordinierte mich dann über die Funkgeräte mit drei Kollegen. Wir teilten das Gelände in vier Sektoren auf – so weit nördlich und östlich, wie ich sehen konnte, das war mein Gebiet. Die anderen machten es ebenso.
Es gibt von diesem Tag ein Foto von Ihnen. Es zeigt Sie mit dem Helm Ihres Vaters und Blaupausen in der Hand inmitten der Trümmer.
Ja, die hatte mir ein Bauingenieur gegeben, das waren die Pläne für alle 110 Stockwerke. Den grössten Teil habe ich direkt weggeworfen, es gab diese Stockwerke ja gar nicht mehr. Mich interessierte nur, wo Eingänge zu den Tiefgaragen waren, weil wir vermuteten, dass dort unten vielleicht Menschen eingeschlossen waren. Der Ingenieur erklärte mir aber auch, dass das Gebäude wie eine Badewanne gebaut war und normalerweise ständig Flusswasser rausgepumpt wurde. Weil die Pumpen nicht mehr funktionierten, drohte also eine Überflutung. Zum Glück konnten wir eine ausgemusterte Feuerwehrpumpe reaktivieren.
Was war mit dem Feuer?
Die Brände waren vor allem auf der Ostseite, mehr Rauch als Flammen. Viel davon und extrem heiss. Klar bei all dem Stahl. Wenn du da nur draufgetreten bist, hat sich dein Stiefel direkt eingebrannt.
Um zu helfen, kamen immer mehr Feuerwehrleute aus dem Umkreis von New York City.
Es war chaotisch. Ich hatte plötzlich ein Megafon – keine Ahnung, wo das herkam! – und gab es meinem Kollegen Pete Hayden, der an diesem Tag auch einer der zuständigen Kommandanten war. Er stieg auf einen der Feuerwehrwagen und rief alle zur Aufmerksamkeit auf. Das funktionierte. Ein kurzer Moment der Ruhe, dann verteilten wir die Aufgaben.
Was war die grösste Herausforderung?
Den Überblick zu behalten, wer überhaupt herkam. Damit wir nicht noch mehr Leute verlieren.
War es auch für Ihre Familie brenzlig?
Im Gegensatz zu vielen anderen hatten wir Glück, aber mein Neffe Peter ging gerade ins Untergeschoss des Nordturms, als der Südturm einstürzte. Er und seine Kameraden schützten sich vor den Trümmern in einigen Autos. Doch als sie ausstiegen, stürzte auch der Nordturm ein und rollte sie wie Bowlingkugeln über die Eingangsrampe auf die Barclay Street. Wegen des gleichen Nachnamens funkte jemand versehentlich mich statt meines Bruders an, als er gefunden wurde: «Chief Blaich, wir haben Ihren Sohn!» Und in all diesem Chaos tauchte dann plötzlich auch noch mein Vater auf.
Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt längst in Pension und 82 …
... und hatte zwei kaputte Knie! Aber seine alte Kompanie war im Einsatz. Er hätte es zu Hause nicht ausgehalten. Mein Vater suchte stundenlang nach seinen Kameraden. Aber keiner von ihnen hat überlebt.
Wann endete dieser Horrortag für Sie?
Gegen Mitternacht kam jemand, um mich abzulösen. Er brachte auch neue Funkgeräte. Unsere nahm ich mit nach Staten Island, um sie aufzuladen. Am nächsten Tag ging es wieder los. Tag und Nacht suchten wir nach Menschen beziehungsweise ihren sterblichen Überresten. Über Monate. Aber es ist nun mal so: Wenn fünf Stockwerke auf einen halben Meter komprimiert sind, findet man da nicht mehr viel. Vielleicht mal einen Helm.
Ihnen wurde dann für die nächsten Monate die Logistik anvertraut. Hatten Sie das vorher schon mal gemacht?
Nicht wirklich. Und Ground Zero war auch nicht wie andere Brände. Wir kämpften zum Beispiel mit Rauch und Feuern tief unter den Trümmern – da kamen wir mit unseren Feuerwehrleitern gar nicht zum Löschen ran. Also heuerte ich eine Filmcrew aus Kalifornien an, die sonst bei Szenen für den Regen sorgt. Die kamen mit ihren grossen blauen Trucks und beregneten Abschnitte, damit wir dort weiter nach Leichen graben konnten. Graben, graben, graben.
Sie klingen frustriert.
Es ist desillusionierend. Wie oft haben wir uns gefragt: Was machen wir hier eigentlich? Wir hatten Hunde, die Leichenteile aufspüren konnten, sogar einen Roboter. Es gab aber einfach nicht viel zu finden. Und dann dieses Feuer, das gefühlt nie ausging.
Sie suchten volle fünf Monate nach Leichen. Ist das normal?
Um ganz ehrlich zu sein – nein. Es war natürlich richtig, alles zu versuchen, aber wir kamen kaum voran. Und Sie müssen sich vorstellen, dass die ganze Operation stoppte, sobald jemand auf etwas stiess. Seien das nun menschliche Überreste oder nur ein Helm. Es wurde dann ganz still. Und die Suchhunde, nun ja. Die haben mich fast wahnsinnig gemacht. Es sind ja auch Restaurants mit eingestürzt, also haben sie ständig Fleischreste erschnüffelt.
Wie entschieden Sie, die Suche zu beenden?
Das war politisch. Rudy Giuliani (der damalige Bürgermeister von New York, Anm. d. Red.) wollte den Ground Zero vor dem Ende seiner Amtszeit sauber haben. Wir wollten die Zahl der Helfer die ganze Zeit reduzieren, um nicht noch mehr zu gefährden. Aber viele wollten gar nicht gehen. Ich weiss noch, wie ich rumging und allen dankte und versuchte, ein mexikanisches Search & Rescue Team aus einer Sektion zu kriegen. Kurz darauf sah ich sie in einer anderen Sektion graben. Alle meinten es natürlich gut, und ich wollte niemanden bevormunden. Aber ich war froh, als wir den Sucheinsatz endlich offiziell für beendet erklärten.
Wie ging es Ihnen in dieser ganzen Zeit?
Wir haben allein am Tag der Attacke 343 Feuerwehrleute verloren. Es gab also viele Beerdigungen. Manchmal zwei für dieselbe Person – weil man erst einen Helm fand, dann einen Stiefel. Anfangs nahm ich daran immer teil, aber nach einer Weile wurde es einfach emotional zu heftig. Ich konnte auch danach sehr lange nicht mehr zu Beerdigungen gehen, ich habe das gar nicht mehr ertragen.
Welche Unterstützung bekamen Sie?
Ungefähr ein Jahr nach 9/11 hatten wir Kontrolluntersuchungen. Physisch war bei mir dank der Masken und Medikamente, die ich wegen meines Atemwegsinfekts nehmen musste, alles okay. Dann bot man mir eine psychologische Untersuchung an, falls ich jemanden gekannt hätte, der getötet wurde. Was für eine blöde Frage. Das ist die Feuerwehr, da kennt jeder jeden! Einen Onkel, einen Neffen, einen Cousin, einen Bruder – wenn nicht von einem selbst, dann den von einem Kameraden.
Ihre Familie scheint Glück gehabt zu haben.
Wir haben alle überlebt, aber mein Bruder und mein Neffe leiden beide unter Folgen des Rettungs- und Aufräumeinsatzes von damals. Mein Bruder braucht mittlerweile ein Gerät, das seine Lungen offen hält.
Blieben Sie und Ihre Familie dennoch bei der Feuerwehr?
Ja, mein Bruder Billy noch für ein paar Jahre, ich ging 2004 in Rente. Mein Neffe Peter blieb bis 2005 und wäre wohl gern noch länger geblieben. Er behauptete immer, es gehe ihm bestens – aber auch seine Lunge ist schwer beschädigt. Einmal musste er aus einem Feuer raus, weil er nicht mehr atmen konnte. Da hat ihm der Arzt verboten, weiterzumachen.
Warum haben Sie nicht hingeschmissen nach allem, was Sie erleben mussten?
Das wäre feige gewesen. Nach meinen fünf Monaten als Logistik-Chef an der Unglücksstelle ging ich wieder zu meiner Feuerwache, wir mussten die ja komplett wiederaufbauen. So viele Kameraden wurden getötet, andere kamen erst wieder vom Ground Zero zurück. Es ist schwierig, da eine 24-Stunden-Wache aufrechtzuerhalten. Es gab ja ausser dem Ground Zero auch noch andere Feuer in New York, um die wir uns kümmern mussten.
Hat sich für die Feuerwehr nach dem gefährlichen Einsatz etwas geändert?
Ja, die Ausrüstung wurde verbessert, vor allem die Schutzkleidung. Und es gibt ein viel besseres Bewusstsein für die Wichtigkeit von Masken. Das war vorher eine Riesendiskussion – die Älteren konnte man kaum davon überzeugen, eine zu tragen. Sie haben das schliesslich Jahrzehnte ohne gemacht. Und es wird viel mehr über Risiken und mögliche Einstürze gesprochen: Wann schicken wir jemanden in ein brennendes Gebäude, und wie sichern wir ihn ab?
Dabei wurden bei 9/11 Fehler gemacht?
Die Feuerwehrleute setzten erst mal alles daran, Menschen rauszuholen. Aber es gab so viele schwierige Faktoren. Zum Beispiel die springenden Menschen. Die herabfallenden Körper erschwerten es im Nordtower, zum eingebauten Feuerwehr-Kommando-Posten in der Lobby zu gelangen. Von dort hätten wir Kontrolle über die Kommunikation, über Wassersprenger und Pumpen gehabt. Und von dort aus verteilt man normalerweise auch die Aufgaben. Aber nachdem das Gebäude einstürzte, fehlte dieser Koordinierungspunkt ohnehin. Auch der Zeitpunkt der Anschläge spielte gegen uns: Der Feueralarm ging gegen 9 Uhr los – da ist Schichtwechsel. Also reagierten die Nacht- und die Tagesschichten auf Anweisungen via Funk. Statt also fünf Männer und einen Officer zu verlieren, verloren wir schnell mal zehn Männer und zwei Officers. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie nach dem Einsturz des ersten Towers überhaupt Entscheidungen getroffen wurden – die Führungsriege war ausgelöscht. Wir mussten erst herausfinden, wer noch da war und wer wo was tat.
War es schwierig, nach 9/11 neue Feuerwehrleute zu finden?
Überhaupt nicht. Manche warten Jahre auf ihre Chance. Dann gab es auf einen Schlag 343 neue Stellen.
Wie haben Sie diesen Einsatz für sich verarbeitet?
Ich war schon als Marine in Vietnam und ich habe viel Zeit in Feuern verbracht. Tote gab es immer. Ich will nicht sagen, dass ich abgehärtet war – aber ich versuche, mich nicht darauf zu fokussieren. Es ist wichtig, dass man die Toten ehrt – und dass man selbst versucht, weiterzuleben. Sonst wirst du verrückt. Das habe ich bei vielen gesehen.
Was machen Sie jetzt am Jahrestag?
Ich halte auf einer Air Base in Illinois einen Vortrag über 9/11. Darüber bin ich sehr froh. Ich hätte an diesem Tag nicht hier in der Stadt sein wollen. Dafür kenne ich einfach zu viele Leute, die gestorben sind.
Beim monatelangen Rettungs- und Sucheinsatz nach 9/11 verantwortete Charles «Charlie» Blaich (75) die Logistik. Wie viele der amerikanischen «Firefighter» stammt auch Blaich, damals Deputy Chief beim New York City Fire Department (FDNY), aus einer Feuerwehrfamilie: Auch sein gleichnamiger Vater (†91), sein Bruder William «Billy» (74) und dessen Sohn Peter (50) waren bei der New Yorker Feuerwehr. Mit seiner Frau Mary DiBiase Blaich (70), einer Fotojournalistin, hat Blaich zwei Söhne – Daniel (36) fliegt Helikopter für die Küstenwache, der zwei Jahre jüngere Andrew ist Computeringenieur.
Beim monatelangen Rettungs- und Sucheinsatz nach 9/11 verantwortete Charles «Charlie» Blaich (75) die Logistik. Wie viele der amerikanischen «Firefighter» stammt auch Blaich, damals Deputy Chief beim New York City Fire Department (FDNY), aus einer Feuerwehrfamilie: Auch sein gleichnamiger Vater (†91), sein Bruder William «Billy» (74) und dessen Sohn Peter (50) waren bei der New Yorker Feuerwehr. Mit seiner Frau Mary DiBiase Blaich (70), einer Fotojournalistin, hat Blaich zwei Söhne – Daniel (36) fliegt Helikopter für die Küstenwache, der zwei Jahre jüngere Andrew ist Computeringenieur.