Wochenlang verschanzten sich ukrainische Kämpfer im Asowstal-Werk in Mariupol. Diese Woche meldete Russland nun, die vollständige Kontrolle über das Stahlwerk erlangt zu haben.
Jetzt kursiert ein Video des russischen Verteidigungsministeriums im Netz, das die letzten Gefangenen von Mariupol zeigt. Wie eine Siegestrophäe führt das Ministerium die Asow-Kämpfer vor: Vor der Kulisse des Stahlwerks Asowstal stehen die Männer mit Bärten in Reih und Glied. Ihre Gesichter sind ausgebleicht nach Wochen ohne Sonne in den Bunkeranlagen der Industriezone.
Selenski kritisiert Westen für Waffenlieferungen
Das Staatsfernsehen in Moskau schwärmt von einer «beispiellosen Operation» – zur «Befreiung» des Stahlwerks und der kompletten Übernahme der strategisch wichtigen Hafenstadt.
Auch im ukrainischen Internet kursieren die russischen Aufnahmen von den Männern und Frauen. Die Freude über ihre Rettung überwiegt bei der Trauer über die Niederlage. Der Verlust der weitgehend zerstörten Stadt ist bisher der schwerste Verlust für die Ukraine.
Die Stadt mit einst fast 500'000 Einwohnern gilt seit Wochen weltweit als Symbol des ukrainischen Widerstandes gegen Russland. Das ist nun vorbei – auch, weil aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (44) der Westen nicht früher schwere Waffen geliefert hat.
Eltern und Ehepartner haben seit Tagen um die Rettung der letzten Verteidiger von Mariupol gebeten. Das Flehen der Ehefrauen und Mütter bei Pressekonferenzen, die Demonstrationen in vielen Ländern sind im Internet allgegenwärtig. Am Freitagabend teilte dann Moskau mit, dass sich alle Soldaten ergeben hätten und versorgt würden. Fast 2500 Verteidiger von Mariupol sollen in Gefangenschaft sein. Ihr Schicksal bleibt ungewiss.
Hakenkreuz-Tattoos
Während Selenski fest auf einen Gefangenenaustausch hofft, fordern viele russische Politiker Prozesse zur Verurteilung der «Nazi-Verbrecher». Forderungen wurden gar laut, die Kämpfer töten zu wollen.
Die russischen Medien nutzen den Moment, als die letzten Männer und Frauen das Werk verlassen, um sie erneut als «Neonazis» zu brandmarken. Sie müssen sich vor Kameras ausziehen, Tätowierungen sind zu sehen, Totenköpfe, Keltenkreuze und ein Hakenkreuz sowie immer wieder eine «schwarze Sonne», angeblich das Erkennungssymbol der Nationalisten. Im Falle einer Anklage wegen Kriegsverbrechen droht den Gefangenen in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Donezker Gebiet, wo Mariupol liegt, die Todesstrafe.
Mariupol hat für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment «Asow» eine grosse symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von Separatisten kontrollierte Hafenstadt. «Asow» hatte zuvor bereits seine Basis bei der benachbarten Hafenstadt Berdjansk verloren.
Kiew bestreitet Niederlage
Die Grossstadt ist auch der letzte Punkt an der Küste des Asowschen Meeres, der nun komplett von den russischen Kräften kontrolliert wird. Damit können die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek eigenständig bleiben. Sie haben den Zugang zu den Weltmeeren – und können über den gut ausgebauten grössten Hafen der Region ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg exportieren.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs hat der «Feind» bereits mit der Räumung von Minen begonnen, um den Hafen wieder funktionstüchtig zu machen. Die Militärführung in Kiew geht davon aus, dass die prorussischen Kräfte mithilfe Moskaus nun ihren Vormarsch in den Gebieten Luhansk und Donezk verstärken, um den gesamten Donbass komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreissen. Es geht ihnen dort auch um eine feste Landverbindung zu der von Russland 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen Moskaus Invasion hat lange dafür gesorgt, dass ukrainischen Angaben zufolge eine russische Gruppierung von bis zu 20'000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden wurde. Diese russischen Soldaten könnten für die stockende Offensive in Richtung Slowjansk oder auch den sich abzeichnenden Kessel bei Sjewjerodonezk nun das entscheidende Übergewicht bringen.
In Kiew will indes niemand von einer Niederlage sprechen. «Die ukrainischen Verteidiger von Azovstal, Helden, nicht zu brechen. Danke!», meint etwa Vizeaussenministerin Emine Dschaparowa am Kapitulationstag. Dabei hat sich der Asow-Kommandant Denys Prokopenko lange gegen das Aufgeben gewehrt. «Macht keine Helden aus Deserteuren und Kämpfern, die sich freiwillig in Gefangenschaft begeben haben», sagt der 30-Jährige kürzlich in einem seiner Videos.
Selenski hält an Gefangenenaustausch fest
Immer wieder haben die Offiziere öffentlich kritisiert, die ukrainische Führung tue zu wenig, um Mariupol zu befreien. Staatsoberhaupt Selenski hingegen beteuert am Samstag in einem Fernsehinterview zum dritten Jahrestag seiner Amtseinführung, alles getan zu haben. Er habe mit der Türkei, der Schweiz, Israel, Frankreich gesprochen, die einen Draht zur russischen Führung hätten, «unseren Militärs entsprechende Waffen zu geben, damit wir auf militärischem Wege bis Mariupol gelangen, um diese Leute freizukämpfen». Gebracht hat es wenig.
Das weitere Geschehen hänge nun von Vereinten Nationen, vom Roten Kreuz und von Russland ab, betont Selenski. Einen Gefangenaustausch solle es geben. «Wir werden sie nach Hause holen.» (SDA/dzc)