Sie haben gesiegt. Die Taliban haben Afghanistan in ihrer Gewalt. Obwohl die Nato fast zwanzig Jahre lang versuchte, dies für die absehbare Zukunft zu verhindern. Hunderttausende Soldaten aus Dutzenden Staaten, westliche Hilfsgelder in Milliardenhöhe, ein beispielloser Kraftakt der Internationalen Gemeinschaft. Nun haben auch die letzten US-Soldaten das Land verlassen.
Dementsprechend gross ist die Freude bei der Taliban. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Die Kämpfer versammeln sich auf den Strassen, schiessen Siegessalven in die Luft und lassen Feuerwerkskörper in den Himmel steigen, um den Abzug der letzten Nato-Soldaten zu feiern.
Und nicht nur das: Die Taliban veranstalteten auch Scheinbegräbnisse und tragen Särge mit amerikanischen, britischen und französischen Flaggen zu Grabe. Auch Nato-Insignien sind zu erkennen – ein symbolischer Akt.
Taliban hoffen auf gute Beziehung mit den USA und der Welt
Gleichzeitig halten viele Kämpfer eine weisse Taliban-Fahne in den Händen, recken sie stolz in die Höhe. Die Islamisten feiern den Abzug schon jetzt als neuen Unabhängigkeitstag. «Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist gross», twitterte das hochrangige Taliban-Mitglied Anas Hakkani.
Taliban-Sprecher Mudschahid sagte laut CNN, die Taliban wünschten sich gute Beziehungen mit den USA und der Welt. Man hoffe, dass Afghanistan nie wieder besetzt werde und es wohlhabend und frei bleibe - eine islamisch regierte Heimat für alle Afghanen.
Internationaler Einsatz hat auch etwas bewirkt
Seit der Machtübernahme der Taliban versucht die Bewegung, sich als gemässigter darzustellen als zu ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1996 und 2001. Viele im Land sorgen sich weiter, dass die militante Gruppe erneut durch Unterdrückung und mit drakonischen Strafen regieren könnte. Die Islamisten haben jedoch versprochen, auch andere politische Kräfte in ihre neue Regierung einzubinden.
Im Abzugschaos ist in den Hintergrund gerückt, dass in Afghanistan in den vergangenen Jahren viel erreicht wurde. Zwei von vielen Beispielen: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist von 56 Jahren 2001 auf zuletzt 63 Jahre angestiegen, die Zahl der Schüler ist von 900'000 (nur Jungen) auf 9,5 Millionen (davon knapp 40 Prozent Mädchen) angewachsen.
Unklar ist, welche Errungenschaften die Neuauflage des Taliban-Regimes überleben werden – ganz besonders gilt das für die Frauenrechte. Wie die Welt erfahren wird, was in Afghanistan künftig geschieht, ist ebenfalls offen. Zumindest besteht die Hoffnung, dass die Islamisten Afghanistan nicht wieder gänzlich abschotten können. Handynetze sind gut ausgebaut, Smartphones weit verbreitet. (jmh/SDA)