Was macht Wladimir Putin (69), wenn er den Krieg verliert? Diese Frage dürfte derzeit unzählige Menschen beschäftigen. Denn die Ukrainer sind von Tag zu Tag optimistischer, die russische Invasion zu stoppen. Aber gibt Putin dann einfach auf? Begeht er Selbstmord, wie Adolf Hitler (1889 – 1945)? Oder lässt er in einem Akt der Verzweiflung eine Atombombe starten?
Niemand hat darauf eine Antwort, vielleicht nicht einmal Putin selber. Der US-Politikwissenschaftler Graham Allison versucht trotzdem, die Szenarien einzuschätzen. Und kommt zum Schluss: «Putin geht davon aus, dass er bei einer Niederlage sein Leben verliert», sagt Allison dem «Spiegel».
Keine gute Perspektive für Putin
Allison leitete die John F. Kennedy School of Government und das Belfer Center für Wissenschaft und internationale Beziehungen an der Harvard-Universität. Jahrelang war er zudem Planungschef des Pentagons und koordinierte nach Ende des Kalten Kriegs die US-Strategie gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In einem seiner Bücher analysierte er zudem die Zwänge und Motive politischer Entscheidungsträger. Kurz gesagt: Der Mann ist ein Experte im Bereich der Krisenforschung.
Er glaubt, dass Putin bei einer Niederlage «als der Mann in die russische Geschichte eingehen würde, der die Ukraine verloren und womöglich sogar den Westen wiederbelebt hat». Dies sei keine gute Perspektive für ihn – und zugleich der analytische Kernpunkt dieser Frage: Was wird Putin wählen, wenn er gezwungen ist, zwischen dieser Niederlage und einer Eskalation der Gewalt und Zerstörung zu wählen? Allison: «Meiner Einschätzung nach wird er sich, als rationaler Akteur, für Letzteres entscheiden.»
«Dann würden Amerikaner Russen töten»
Das könnte dann eben bedeuten, Atomwaffen einzusetzen. «Putin hat keine Hemmung, Menschen umzubringen, auch in sehr grosser Zahl. Das haben wir in Grosny gesehen, und wir sehen es heute in Mariupol», sagt Allison weiter. Er beschreibt dies als «Albtraum-Szenario». Der Einsatz einer vergleichsweise kleinen Atombombe von 15 oder 20 Kilotonnen – was etwa der Bombe von Hiroshima entspricht – könnte 20’000 bis 50’000 Menschen töten, je nach Grösse der Stadt, die getroffen würde. «Damit wäre das nukleare Tabu gebrochen, das mehr als 70 Jahre lang bestanden hat – und wir wären in einer neuen Realität».
Allison glaubt nicht, dass die USA oder die Nato daraufhin selber eine taktische Atomwaffe einsetzen würden. Doch man würde nicht darum herumkommen, «etwas sehr Dramatisches zu tun». Der Experte nennt als Möglichkeit, die Raketen-Abschussbasen zu attackieren. «Dann würden Amerikaner Russen töten. Das wäre ein Szenario, das so jenseitig ist, dass es sich die meisten Menschen schlicht nicht vorstellen können.»
«Es darauf ankommen zu lassen, ist nicht vernünftig»
Er hofft darum, dass ein Weg gefunden wird, das Töten so schnell wie möglich zu beenden. «Dass Putin ein Dämon ist, das bezweifeln, glaube ich, nicht mehr viele», sagt Allison. Aber einer, der durchaus rational handle. Man müsse ihm darum etwas bieten, mit dem er sein Gesicht wahren könne. «Etwas, aus dem er für sich selbst und für die Russen eine Geschichte spinnen kann. Zum Beispiel: 'Ich habe unsere Kontrolle über den Donbass konsolidiert. Wir haben jetzt eine Landbrücke zur Krim'». Und/oder, dass die Ukraine noch lange kein Nato-Mitglied werden würde. Man müsse Putin einen guten Grund geben, den Krieg stoppen zu können.
Von der Argumentation, Putins Drohungen seien nur Teil seiner Kriegsführung und lediglich taktische Spielereien, hält Allison wenig: «Das kommt vielfach von Leuten, die nicht wirklich wissen, mit welchem Risiko sie es hier zu tun haben. Es darauf ankommen zu lassen, ist nicht vernünftig.»
Nach Russland könnte China zur Gefahr werden
Allison nimmt, um seine Argumentationen zu untermauern, auch den Kalten Krieg als Beispiel, mit dem er sich seit Jahrzehnten beschäftigt: «Der Kalte Krieg habe gelernt, dass man stets einen Weg finden müsse, gemeinsam zu überleben. Entweder trifft Putin mit Gottes Hilfe ein Blitzschlag – womit ich sehr einverstanden wäre –, oder der Krieg muss mit diesem Dämon beendet werden.» Man habe es ja in der Vergangenheit auch geschafft, mit Josef Stalin (1878 – 1953) Mao Zedong (1893 – 1976) zusammenzuleben.
Aber was kommt danach? Allison glaubt, dass dann die grösste Gefahr noch weiter im Osten angesiedelt ist:
«Ich glaube, dass wir in eine unübersichtliche Ära gehen, in der China die grösste Bedrohung sein wird: eine aufsteigende Macht, welche die Weltordnung verändert und die etablierte Macht, die USA, herausfordert.»
Russland werde ein Störfaktor bleiben, gerade für Europa. Aber die Einigkeit Europas könnte in Russland «eines Tages die Einsicht keimen lassen, dass Putin dieses Land in eine Sackgasse geführt hat.» (vof)