Mit seinem Ryanair-Manöver hat sich Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko (66) offen mit der EU angelegt. Eine Maschine der irischen Fluggesellschaft Ryanair von Athen (Griechenland) nach Vilnius (Litauen) zu einer Zwischenlandung in der belarussischen Hauptstadt Minsk zu zwingen, um einen Passagier zu verhaften, kann die Staaten- und Wertegemeinschaft nicht dulden.
Die Frage ist: War das ein Alleingang des national und wirtschaftlich geschwächten Lukaschenko?
Timothy Snyder sagt: nein. Der bekannte amerikanische Historiker und Buchautor meldete sich schon am Sonntagabend via Twitter zu Wort. Er ist sicher: Putin hat mitgemischt.
Russland-Expertin widerspricht: «Lukaschenko hat allein entschieden»
«Belarus hätte kein EU-Flugzeug ohne die Zustimmung von Russland entführt», schreibt Snyder. «Möglicherweise war die Entführung sogar eine russische Initiative.» Das sollte man bei einer Reaktion bedenken.
Er argumentiert, dass neue EU-Sanktionen gegen Belarus Lukaschenko nur noch mehr an Moskau binden würden. «Deshalb sollte die EU darüber nachdenken, ausser Belarus auch Russland zu sanktionieren.» Konkret plädiert er für einen Stop der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, deren zum russischen Mutterkonzern Gazprom gehörige Projektgesellschaft «Nord Stream 2 AG» in Zug sitzt.
Tatjana Stanowaja widerspricht. «Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass Lukaschenko seine Entscheidung allein getroffen hat, ohne Beteiligung von Russland», sagt die Politikwissenschaftlerin von der Denkfabrik Carnegie Moscow Center. Vielleicht habe Lukaschenko Putin vorab informiert. «Es wäre aber auch nicht überraschend, wenn er es nicht getan hat.»
Lukaschenko kämpfe schliesslich an zwei Fronten: «Gegen den Westen und seinen Einfluss innerhalb von Belarus (Lukaschenko betrachtet die Opposition als pro-westliche Marionette) und gegen den russischen Einfluss in Belarus.»
Und der hat zugenommen. Erst im vergangenen September gewährte Putin Lukaschenko einen Kredit über 1,5 Milliarden Dollar und erklärte sich bereit, den Handel zu fördern – eine Geste der Unterstützung nach den wochenlangen Massenprotesten.
Die Abhängigkeit gefällt Lukaschenko offenbar nicht. Der Belarus-Diktator reagiere sofort, wenn er den Verdacht habe, ein hoher Beamter sei pro-russisch, so Russland-Expertin Stanovaya. «Auf der anderen Seite ist Russland ein geopolitischer Beschützer für Lukaschenkos Regime und ist bis zu einem gewissen Grad indirekt verantwortlich für seine politische Langlebigkeit und seine Handlungen.»
ETH-Experte: «Vollständige Aufklärung ist schwierig»
Über eine Beteiligung von Russlands Staatspräsident Wladimir Putin zu spekulieren, hält auch der ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg für übertrieben. Er gibt gegenüber Blick zu Bedenken: «Die vollständige Aufklärung des Vorfalls bleibt schwierig, denn dazu werden die belarussischen Behörden kaum Hand bieten.»
Zogg hält es auch für möglich, dass nicht mal Lukaschenko persönlich die Flugzeug-Entführung direkt angeordnet habe. «Auch Missverständnisse in der Befehlskette könnten zu diesem Ereignis geführt haben. Jedoch ist gut möglich, dass das Vorgehen mit solcher Tragweite sehr hochrangig angeordnet wurde.»
Noch ist zu wenig über den Vorfall vom Sonntag bekannt, um ihn abschliessend zu beurteilen. Sicher ist bislang nur, dass die Ryanair-Maschine von einem Kampfjet zur Kursänderung auf Minsk gezwungen wurde. Belarus hatte als Vorwand eine angebliche Bombendrohung vorgebracht.
Auch russische Staatsbürgerin inhaftiert
Wie am Montagnachmittag bekannt wurde, wurde bei der Landung nicht nur der im Exil lebende Belarusse Roman Protasewitsch, sondern auch eine mitreisende Freundin verhaftet, welche die russische Staatsbürgerschaft hat.
Das Menschenrechtszentrum Wesna in Minsk berichtete, dass neben dem Journalisten auch eine Studentin festgenommen worden sei. Die Frau studiert Wesna zufolge an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in der litauischen Hauptstadt Vilnius.
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow sagte laut der Agentur «Interfax», die russische Botschaft habe sich an das Aussenministerium von Belarus gewandt, um konsularischen Zugang zu der russischen Staatsbürgerin zu bekommen. «Wir haben ausserdem Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen», so Lawrow.
Details nannte er nicht. Aus Russland war an dem Belarus-Manöver allerdings auch keine Kritik zu hören. Im Gegenteil: «Es ist schockierend, dass der Westen den Vorfall im belarussischen Luftraum 'schockierend' nennt», schrieb eine Sprecherin des Aussenministeriums am Montag auf Facebook. Eine Redakteurin von «Russia Today» sagte, Lukaschenko habe «das schön gespielt». Ein Abgeordneter des russischen Parlaments beschrieb Protasewitschs Verhaftung gar als «eine brilliante Special Operation».