Der Amerikaner John Allen Chau (27) war Missionar und wollte den indigenen Stamm der Sentinelesen zum Christentum bekehren – doch das Inselvolk im Indischen Ozean deckte ihn mit einem Pfeilhagel ein, Chau bezahlte den Einsatz mit dem Leben. SonntagsBlick sprach mit Christoph Brumann vom deutschen Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung über den Vorfall und über Menschen, die isoliert von der Aussenwelt leben.
BLICK: Professor Brumann, was ging
Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Tod des US-Missionars John Allen Chau erfuhren?
Christoph Brumann: Es hat mich nicht wirklich überrascht. Es ist bekannt, dass die Sentinelesen – schätzungsweise 50 bis 400 Personen – jeden Kontakt mit dem Rest der Welt ablehnen und feindselig auf Eindringlinge reagieren.
Woher kommt diese Ablehnung?
Darüber kann man nur spekulieren. Ein Grund könnte sein, dass 1880 einige Bewohner der Insel entführt wurden. Die Erwachsenen starben kurz darauf an einer Infektion. Die Kinder wurden wieder auf der Insel abgesetzt. Gut möglich, dass die Sentinelesen diese Geschichte von Generation zu Generation weitererzählt und dadurch die Abneigung gegen die Aussenwelt aufrechterhalten haben.
North Sentinel Island hat eine Fläche von rund 60 Quadratkilometern – weniger als der Zürichsee. Wie konnte das Volk bis heute isoliert überleben?
Die Sentinelesen jagen, sammeln und fischen, bauen Boote, Körbe sowie Fischernetze. Kurz: Sie haben auf ihrer Insel alles, was sie zum Überleben brauchen. Zudem liegt die Insel 25 Kilometer von den anderen Andamanen-Inseln entfernt und ist von einem Korallenriff umgeben, das mit dem Schiff kaum zu passieren ist. Zudem gibt es auf der Insel wenig zu holen, für das sich unsere Welt interessiert.
Nach unseren Gesetzen gehört die Insel zu Indien und ein Mensch wurde getötet. Müsste nicht die Staatsanwaltschaft
wegen Mordes ermitteln?
Indien hat die Insel zum Sperrgebiet erklärt. Um zu ermitteln, müsste man diesen Grundsatz brechen – und dadurch würde man das Leben sämtlicher Sentinelesen aufs Spiel setzen. Der Kontakt mit uns würde viele von ihnen töten. Ihr Immunsystem wäre für den Kontakt mit der globalisierten Aussenwelt nicht gewappnet.
Gibt es neben den Sentinelesen noch andere Völker, die in völliger Isolation leben?
Ja, weltweit gibt es schätzungsweise 100 Gruppen, die keinen Kontakt zur Aussenwelt haben, vermutlich ein paar Tausend Menschen. Die meisten davon leben im Amazonasgebiet, andere auf Papua-Neuguinea. Die Sentinelesen sind aber insofern einzigartig, als sie auf einer kleinen Insel leben.
Wie gehen andere Länder mit diesen Volksgruppen um?
Auch woanders versucht man zum Teil, sie vor Aussenkontakten zu schützen. Generelle Sperrgebiete gibt es aber nicht. Im riesigen Amazonasgebiet haben die Gruppen jedoch mehr Möglichkeiten, Kontakte mit unserer Welt zu vermeiden.
Sind Begegnungen mit isolierten Völkern immer so feindselig wie auf North Sentinel Island?
Nein. Aber weltweite Schlagzeilen gibt es natürlich nur, wenn Blut fliesst. Das sagt mehr aus über uns als über sie ...
Gehen Sie davon aus, dass es
Urvölker gibt, die noch gar nie Kontakt hatten mit unserer Welt?
Das halte ich für unmöglich. Schliesslich handelt es sich bei den meisten Gruppen um Jäger und Sammler. Sie ziehen umher und müssen dabei irgendwann auf andere Menschen stossen. Sie wissen mit Sicherheit, dass es eine andere Welt gibt.
Ist es überhaupt korrekt, von
Urvölkern zu sprechen?
Meiner Meinung ist dieser Begriff falsch. Schliesslich leben auch die Sentinelesen im 21. Jahrhundert. Gut möglich, dass sie genau in diesem Moment am Feuer sitzen und darüber diskutieren, was es wohl mit diesem Eindringling, dem Missionar, auf sich hatte.