Vom Tellerwäscher zum Millionär – oder eben umgekehrt. Der Amerikaner Andy Raine (49) hätte tiefer nicht fallen können. Dass er mal so enden könnte, hätte er sich vor vier Jahren nicht vorstellen können. Damals ging es ihm gut. Er hatte über eine Million an der Börse verdient und war in der Baubranche tätig.
«Ich hatte mal viel Geld. Mein Grossvater vererbte mir 350'000 Dollar, als ich mein Studium begann. Das habe ich aber abgebrochen, weil die Studiengebühren zu teuer waren. Ich habe lieber selbstständig gearbeitet», sagt Raine zu «Focus».
Das Geld seines Grossvaters legte er gut an und verdiente damit über eine Million Dollar. Dann kam der Börsencrash. Das ganze Geld war weg. Also machte er sich selbstständig und half dabei, Häuser zu bauen. Doch dann kam Corona. Plötzlich brachen die Aufträge ein und damit auch sein Einkommen.
Schliesslich habe er die Miete nicht mehr zahlen können – und wurde im Februar 2020 von seinem Vermieter vor die Tür gesetzt.
Wenn Büsche oder Hintereingänge zum Schlafplatz werden
Der damals 45-Jährigen versuchte, das Beste daraus zu machen. «Ich nutzte die Gelegenheit, in Wäldern zu zelten. Manchmal konnte ich bei Bekannten im Garten oder auf der Couch schlafen.» Zudem habe er zu jener Zeit noch ein Auto besessen, was ihm das Leben erleichtert habe. Wenig später sei ihm der Wagen – und damit auch sein Lieblings-Schlafplatz – aber gestohlen worden.
«Das ist mit das Schlimmste am Obdachlosenleben: Fast überall, wo man sich aufhält, verstösst man gegen Gesetze und muss weiterziehen.» In einem Auto zu schlafen, sei dagegen nicht illegal.
«Es ist fast leichter, wenn man nichts mehr besitzt»
Wenn man dagegen nachts auf einer Parkbank schlafe, werde man von Polizisten weggeschickt. Raine zu «Focus»: «Oft sind sie sogar nett – aber es ist eben nicht erlaubt. Zum Schlafen muss man sich in Büschen oder Hintereingängen versteckt halten.»
Auch der Besitz von Gegenständen schaffe ständig Probleme. So könne er seinen Einkaufswagen, in dem er seine drei Computer aufbewahrt, häufig nicht in Gebäude hereinnehmen. Ihn draussen unbeaufsichtigt stehenzulassen, sei aber ebenfalls keine Option. «Es ist fast leichter, wenn man nichts mehr besitzt.»
«Jeder fragt jeden, was er braucht»
Obwohl das Leben auf der Strasse ein hartes Pflaster sei, berichtet Raine von einer unfassbaren Grosszügigkeit seiner Mitmenschen. So seien nicht nur die Obdachlosen untereinander hilfsbereit, sondern auch die Passanten würden sich häufig solidarisch zeigen.
«Jeder fragt jeden, was er braucht: eine Decke, eine Jacke oder etwas zu essen. Natürlich auch Drogen», sagt Raine, der sich selbst nicht als drogensüchtig bezeichnet, zum Portal.
Wie seine Zukunft aussieht, weiss der Ex-Millionär nicht. Das will aber nicht heissen, dass er sich keine Ziele gesetzt hat. «Ich möchte mir genug für ein billiges Auto zusammensparen. Später würde ich gern ein Grundstück kaufen und darauf Stellplätze für Wohnmobile vermieten.»
Der Obdachlose ist sich sicher: «Wer eine Adresse oder ein Auto hat, tut sich leichter.» (dzc)