Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (50) will ihr Land zurück in die EU führen. Der Weg dahin führt aber nur über eine Loslösung vom Vereinigten Königreich, dem das Land seit 1707 angehört. Daher will die Erste Ministerin baldmöglichst eine Abstimmung durchführen und dabei, falls nötig, auf Konfrontation mit dem britischen Premierminister Boris Johnson (56) gehen.
In einem Interview mit der «Welt» sagte sie über das Verhältnis zu Grossbritannien: «Mehr als die Hälfte der Schotten will laut jüngsten Umfragen die Unabhängigkeit. Ich bin zuversichtlich, dass die Schotten beim nächsten Referendum Ja sagen werden.»
Erste Abstimmung für Verbleib
Schon 2014 hatten die Schotten über eine Loslösung vom Königreich abgestimmt. Damals stimmten 55,3 Prozent dagegen. Inzwischen haben sich die Vorzeichen aber geändert: Grossbritannien ist am 31. Januar dieses Jahres aus der EU ausgetreten. Mit 62 Prozent hatte eine klare Mehrheit der Schotten gegen den Brexit gestimmt.
Der Brexit sowie auch der anfangs zögerliche Umgang Londons mit der Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass heute in Umfragen rund 49 Prozent der Befragten das Königreich verlassen wollen, während 44 Prozent für einen Verbleib sind.
Johnson übergehen
Für ein neues Referendum, das möglichst schon 2021 stattfinden soll, muss Sturgeon allerdings grosse Hürden überwinden. Ihre Partei, die autonomistische Scottish National Party (SNP), muss im kommenden Mai die Wahlen gewinnen.
Zudem muss der britische Premierminister Boris Johnson (56) zu einer Abstimmung seine Zustimmung geben. Die hat er aber bisher kategorisch abgelehnt.
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Was, wenn Johnson nie einlenkt? Dann würde sich Sturgeon wohl über ihn hinwegsetzen. Sturgeons Plan: «Verweigert London die Zustimmung, müssen wir sehen, ob das schottische Parlament die nötigen Gesetze erlassen kann. Diese Frage hat sich noch nicht vor Gericht gestellt, aber ich schliesse das nicht aus.» Sie könne nicht zulassen, dass die britische Regierung die Demokratie blockiere.
Wie London in einem solchen Fall von Konfrontation reagieren würde, ist offen.
Schnelles Prozedere
Sturgeon ist davon überzeugt, dass die EU Schottland sofort willkommen heissen würde. Sturgeon: «Viele Stimmen in der EU sagen, dass Schottland mehr als 40 Jahre Mitglied war und alle Standards und Vorschriften erfüllt. Wir denken, dass wir ein einmaliger Fall für einen schnellen Beitritt zur EU sind.»
Und sie fasst zusammen: «Schottland kommt nach Hause, das ist kein neuer Anfang.»
Grossbritannien und die EU verhandeln in diesen Tagen immer noch über einen Handelspakt, der nach der elfmonatigen Übergangszeit am 1. Januar 2021 in Kraft treten soll. Die Tage sind gezählt. Ob es einen Deal gibt oder gar keinen, ist zurzeit völlig offen.
Für die Schotten wäre ein No-Deal mit der EU schlimm. «Aber selbst wenn es eine Einigung gibt, wird diese minimal», sagt Nicola Sturgeon. «Mit Ende des Jahres werden wir die Folgen erleben und langfristig den wirtschaftlichen Schaden.» (gf)