Es ist nicht nur die Zahl, die beflügelt. Mit einer Milliarde und knapp 420 Millionen Einwohnern hat Indien so viele Menschen wie kein anderes Land. China, das heute 1,412 Milliarden Einwohner zählt, ist seit Mitte des Monats auf den zweiten Platz gerutscht. Nach Schätzungen des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA wird Indiens Bevölkerungszahl in den kommenden Wochen auf 1,4286 Menschen steigen.
Indien ist nicht nur demografisch auf der Überholspur. Dank des nominalen Bruttoinlandsprodukts von rund 3000 Milliarden US-Dollar avancierte das Land zur fünftgrössten Volkswirtschaft der Welt. Das ehrgeizige Ziel: Indien will in wenigen Jahren hinter den USA und China – und vor Japan und Deutschland – zur Nummer drei werden. Kein G-20-Staat legte 2022 wirtschaftlich stärker zu als Indien. Das Wachstum seines realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) überstieg mit 6,8 Prozent zum Vorjahr dasjenige von China um mehr als das Doppelte.
Hoffnung auf junge Bevölkerung
Das Land setze grosse Hoffnungen auf seine sogenannte «Demografische Dividende», sagt Christian Wagner (64) von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Während China und der Westen mit einer Vergreisung der Gesellschaft zu kämpfen hätten, sei die Bevölkerung Indiens sehr jung. Das Durchschnittsalter liegt bei 27 Jahren (in der Schweiz sind es 42,78 Jahre) und die durchschnittliche Lebenserwartung mit 67 Jahren im Vergleich zu westlichen Industriestaaten ist niedrig.
In Zeiten der globalen Unsicherheit werden die Karten neu gemischt. Europa will sich wirtschaftlich von China abnabeln. Auch die Vereinigten Staaten suchen nach neuen Absatzmärkten und Produktionsstandorten. «Das ist eine grosse Chance für Indien», sagt Wagner weiter. Doch ist nicht alles Gold, was glänzt.
iPhones werden bereits in Indien hergestellt
Zwar zählt Indien zu den führenden Playern bei der Informationstechnologie und im Dienstleistungsbereich, verfügt auch über grosse Software- und Pharmaindustrien, doch noch immer arbeitet die Hälfte der Inder in der Landwirtschaft. «Die Güterherstellung macht nur 14 Prozent aus. Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand aber hängen vom Export ab», sagt Christian Wagner. Und dafür wird in Indien noch zu wenig hergestellt.
Das könnte sich bald ändern. Einige US-Unternehmen haben schon investiert. So produzieren iPhone-Hersteller Foxconn, Wistron und Pegatron bereits in Indien. Auch für die Produktion von Halbleitern sind Milliarden-Projekte in Indien geplant. Um ausländische Investoren zu locken, müsste die Regierung von Narendra Modi (72) mehr in die Infrastruktur investieren, bürokratische Hürden abbauen und Korruption bekämpfen, so der deutsche Indien-Experte weiter.
Die Alphabetisierung liegt bei nur 80 Prozent
Trotz des beachtlichen Bruttoinlandprodukts lag das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 2022 bei knapp 2400 US-Dollar. In weiten Teilen des Landes herrscht Armut. «Das Land hat zwar viele junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, doch fehlen die Arbeitsplätze», sagt Christian Wagner. Zudem sei das Bildungsniveau niedrig. «Viel zu wenigen Frauen wird ein Berufsleben ermöglicht. Die Alphabetisierung im Land liegt bei nur 80 Prozent». Die Arbeitskräfte in Indien seien zwar billig, so Wagner weiter, aber eben grösstenteils nicht qualifiziert genug. «Narendra Modi treibt die Öffnung der Märkte voran, doch er hat auch mit viel Widerstand aus der Bevölkerung zu kämpfen».
Unterdessen positioniert sich Indien auch politisch unter den Weltmächten. Es ist eine Atommacht, die aufrüstet. Indien unterhält gute Beziehungen zum Westen, aber auch zu Russland, sieht sich als Rivale seines Nachbarn China. Es gehört zur G20-Gruppe, zu den sogenannten Outreach-Schwellenländern, die an G7-Treffen teilnehmen und zu den BRICS-Staaten. Zudem zählt Indien, nach China, zum wichtigsten Investor auf dem afrikanischen Kontinent.