Einen Tag nach dem überstandenen Misstrauensvotum tritt der britische Premierminister Boris Johnson (57) am Dienstagmorgen vor die Kameras. Nur wenige Stunden zuvor haben ihm 211 Abgeordnete seiner Tory-Partei das Vertrauen ausgesprochen. Damit ist klar: Johnson bleibt Premierminister – zumindest vorerst.
Johnson spricht von einem «Schlussstrich», will die Partygate-Affäre hinter sich lassen und nach vorne schauen. «Aber so einfach ist das nicht. Johnson ist massivst geschwächt», sagt Grossbritannien-Experte Gerhard Dannemann (63) vom Centre for British Studies in Berlin. «Die symbolträchtige Zahl von 100 Abgeordneten gegen Johnson war eine erste Grenze. Jetzt waren es sogar 148 Abgeordnete. Das ist ein historisch schlechter Wert.»
Heftige Niederlage bei Nachwahlen?
41 Prozent seiner eigenen Leute hätten ihm das Misstrauen ausgesprochen. Damit sei klar, so Dannemann, dass Johnson nicht mehr automatisch auf eine Mehrheit im Parlament zählen könne. «Es wird sehr schwierig für ihn, weiterhin vernünftig zu regieren.» In den kommenden Monaten stünden schwierige Entscheide an, unter anderem würden Steuererhöhungen diskutiert. «Die Meinungen innerhalb der Partei sind sehr unterschiedlich. Wie Johnson die Partei jetzt einen will, ist unklar.»
Auch für den britischen Journalisten Grahame Lucas ist klar: «Johnson steht mit dem Rücken zur Wand.» In der Vergangenheit habe es immer wieder Misstrauensvoten gegeben, beispielsweise bei John Major, Margaret Thatcher oder zuletzt bei Theresa May. «Der Ausgang war immer gleich: Die Premierminister haben zwar die Misstrauensvoten gewonnen, mussten aber nach einer mehr oder weniger kurzen Zeit dennoch zurücktreten.» Major trat zwar nicht zurück, war aber sehr geschwächt und verlor dadurch die nächste Wahl.
In zwei britischen Wahlkreisen stehen noch Nachwahlen an. Experten rechnen damit, dass die Konservative Partei Johnsons in beiden Kreisen eine Niederlage einfahren wird. Das könnte auch eine klare Signalwirkung auf das politische Geschehen haben. «Sollte Johnson beide Wahlkreise verlieren, wäre das eine Katastrophe. Der Kreis Wakefield beispielsweise ist ein traditioneller Labour-Sitz und wurde erst 2019 von Johnson erobert. Nun dürfte Labour den Sitz zurückerobern. Tiverton im Südwesten hingegen wählt traditionell Tory. Wenn Johnson den Kreis nun auch verliert, wäre das eine Katastrophe!», sagt Lucas.
«Zeichen stehen momentan auf Abschied»
Auch die Bevölkerung hat dem Premierminister das Vertrauen entzogen. 60 bis 70 Prozent der Britinnen und Briten fordern gemäss Umfragen Johnsons Rücktritt. «Aber Johnson ist extrem schwierig einzuschätzen und vor allem ein eiskalter Machtpolitiker. Er ignoriert Regeln, und niemand weiss, wie weit er gehen würde, um seine Macht zu sichern.»
Derzeit wird in Grossbritannien ein neues Gesetz diskutiert. Mit diesem könnte die Polizei Demonstrationen verbieten oder auflösen, die «zu laut» sind. «Aber was zu laut ist, entscheidet die Polizei je nach Situation. Es ist reine Willkür», so Lucas. Die Angst in der Bevölkerung wachse, dass Johnson das Gesetz durchdrücke und missbrauche, um etwa die freie Meinungsäusserung zu unterdrücken.
Ob Johnson nun zurücktritt, bleibt abzuwarten. «Bei den meisten anderen Personen würde ich sagen, sie werden irgendwann zurücktreten müssen», sagt Grossbritannien-Experte Gerhard Dannemann. «Aber bei Johnson weiss man das nicht. Er hat schon viele brenzlige Situationen überstanden. Vielleicht schafft er es noch bis zur nächsten Unterhauswahl. Momentan würde ich sagen, die Zeichen stehen auf Abschied.»