Es ist eine unvorstellbare Klatsche für Erdogan. Die Stimmen der Kommunalwahlen sind nicht ganz ausgezählt. Doch in den türkischen Metropolen wird der Sieg der «Republikanischen Volkspartei» (CHP) bereits bejubelt. Blick erklärt, warum das vernichtende Wahlergebnis der Anfang vom Ende des Patriarchen am Bosporus sein könnte.
Wer sind die grössten Gewinner der türkischen Kommunalwahlen?
Die Türkei wählte am Sonntag ihre Bürgermeister und Gemeinderäte. Die Oppositionspartei machte vielerorts das Rennen, nicht nur in den fünf grössten Städten der Türkei. Insgesamt avanciert die CHP mit mehr als 37,13 Prozent der Stimmen zur stärksten Kraft im Land, vor der AKP mit 36,14 Prozent. Für Erdogans Partei ist es das schlechteste Wahlergebnis seit über 20 Jahren. Besonders bitter für den Präsidenten: Die Bürgermeister in der Wirtschaftsmetropole Istanbul und in der Hauptstadt Ankara wurden in ihren Ämtern bestätigt.
Weshalb sind die Kommunalwahlen für den türkischen Präsidenten so wichtig?
Recep Tayyip Erdogan (70) war zwar im vergangenen Mai erneut zum Präsidenten gewählt worden. Doch schon damals standen viele Türken nicht mehr hinter ihm. Beim ersten Wahlgang fehlte die absolute Mehrheit. Erdogan konnte erst in der Stichwahl Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu (75) besiegen. Die Kommunalwahlen zeigen die aktuelle Stimmung im Land. Und die kippt zugunsten der Opposition. Nur 76 Prozent der 61 Mio. Wähler gingen an die Urnen. So wenig wie zuletzt vor 20 Jahren. Alarmierend sind für Erdogan auch die 51 Prozent, mit denen der aktuelle CHP-Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu (52), im Amt bestätigt wurde. Istanbul ist Erdogans politische Heimat. Hier startete er 1994 als Bürgermeister seine steile Politkarriere. Und hier heisst es: «Wer Istanbul regiert, der wird auch Präsident der Türkei.»
Warum kehren die türkischen Wähler ihrem Präsidenten den Rücken?
Schlechtes Katastrophen-Management, Wirtschaftskrise, elitärer Machtapparat. Das sind einige der Faktoren, die zu Erdogans Wahldebakel führten. Der vom Präsidenten versprochene Turbo-Wiederaufbau nach dem Jahrhundertbeben anfangs Februar 2023 stockt. Noch immer leben über 600'000 Bebenopfer in Container-Dörfern. Gleichzeitig steigen die Preise und die Arbeitslosigkeit. Die Türkei steuert laut Zentralbank auf eine Inflationsrate von 75 Prozent zu. Eine schwache Lira verteuert die Rohstoffimporte. Zunehmend verärgert auch das prunkvolle Leben der Politelite das Volk.
Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die Zukunft der Türkei aus?
Für Erdogan war der Wahlsonntag eine vernichtende Niederlage, sagt Politologe Soli Özel von der Kadir-Has-Universität gegenüber dem «Tagesspiegel», «das Ergebnis ist eine tektonische Verschiebung, wie man sie sich kaum vorstellen konnte». Sein Kollege Murat Somer von der Özyegin-Universität sieht den Anfang vom Ende der Ära Erdogan. Auch Murat Yetkin, Autor des einflussreichen Blogs YetkinReport prophezeit eine Zeitenwende. «Die Bürger wachen in einer anderen Türkei auf».
Was genau kann sich in der Türkei ändern?
Präsident Erdogan hat die Schlappe eingestanden. Man wolle nun aus den Fehlern lernen, sagt der Präsident noch am Wahlabend. Die Erkenntnis könnte seinen autokratischen Kurs korrigieren. Wenn nicht, stünde ein aussichtsreicher Gegenkandidat parat: Ekrem Imamoglu, der wiedergewählte Bürgermeister von Istanbul. Sollte die CHP tatsächlich bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2028 punkten, wäre er ihr Kandidat. Dann würde die Türkei zur Demokratie zurückfinden und sich wieder mehr der EU und dem Westen zuwenden.