Das Vakuum, das die westlichen Verbündeten durch ihren Rückzug aus Afghanistan hinterlassen, lockt neue Interessenten an. China und Russland sind die ersten, die sich in Stellung bringen und von der neuen Situation profitieren wollen.
Denn der Truppenabzug des Westens macht Appetit auf Machtausbau und wirtschaftliche Vorteile. China braucht vor allem funktionierende Infrastrukturen wie Bahnlinien, Strassen und Pipelines. Sie sind wichtig für das gigantische Projekt «Neue Seidenstrasse», auf der China seine Waren in den Westen transportieren will.
Peking bangt um Bodenschätze und Beteiligungen in Afghanistan, etwa an einer Kupfermine in der Provinz Lugar, am Strassenbau im Norden des Landes oder an der Erdölförderung. Ende Juli empfing Peking eine Delegation der Taliban für Gespräche – wohl in der Vorahnung darüber, dass die Islamisten bald die Macht in Afghanistan übernehmen würden.
Peking – obwohl es Muslime im eigenen Land verfolgt – ist für eine Zusammenarbeit mit den Islamisten bereit. Kurz nach dem Machtwechsel teilte Chinas Führung mit, sie respektiere «den Willen und die Entscheidung des afghanischen Volkes».
Russland rüstet auf
Russland, das sich zur Sowjetzeit zwischen 1979 und 1989 mit einer Besetzung Afghanistans ebenfalls die Finger verbrannt hatte, will Kontakte auf «Arbeitsebene» installieren. Paradox: In Russland gelten die Taliban als Terrororganisation.
Der deutsche Sicherheitsexperte Markus Kaim (53) sagt zu Blick: «Solange die Taliban die im Land herrschende Instabilität nicht auf Nachbarländer übergreifen lassen, werden sie von Russland und China als dominante politische Kraft akzeptiert.»
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Russland wird nach dem Rückzug der Nato die Gelegenheit nutzen, um seine Präsenz in den ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan und Kirgisistan ausbauen.
Türkei will verhandeln
Auch die Türkei bemüht sich, aus dem Scheitern der Nato-Mission Profit zu schlagen. Es war vorgesehen, dass türkische Truppen nach dem Nato-Abzug den Flughafen von Kabul kontrollieren würden. Wegen des rasanten Vorpreschens der Taliban kam es aber nicht dazu. Nun wollen türkische Unterhändler mit der neuen Regierung möglichst schnell ins Gespräch kommen.
Iran bangt um Wasser
Im mehrheitlich schiitischen Iran waren die sunnitischen Taliban lange Zeit verhasst, in den vergangenen Jahren soll der Iran den Islamisten aber sogar Waffen geliefert haben, um Amerikaner anzugreifen.
Nun dürften sich die Kontakte intensivieren. Denn der Osten Irans ist vom Trinkwasser abhängig, das die grossen Flüsse aus Afghanistan bringen und das die Taliban auch schon umgeleitet haben. Zudem werden grosse Flüchtlingsströme erwartet.
Anschläge in Kaschmir?
Der Machtwechsel in Afghanistan könnte im Süden zwischen den beiden Erzfeinden Indien und Pakistan zu neuen Konflikten führen. Beide wollen ihren Einfluss auf Kabul steigern. Es ist nicht auszuschliessen, dass die islamistischen Kämpfer, nachdem sie Kabul bezwungen haben, für terroristische Attacken in der Grenzregion Kaschmir sorgen werden.