Auf einen Blick
Der Winter naht – und stellt die Ukraine vor grosse Probleme. Lange herrschte Stillstand an der ukrainisch-russischen Frontlinie im Donbass, die beiden Seiten waren in einen Abnutzungskrieg verwickelt. Seit dem Sommer kam allerdings wieder Bewegung in die Sache – im Donbass kommt es wieder zu heftigen Kämpfen, die russische Armee macht langsam aber stetig signifikante Fortschritte in der Region.
Nun könnte der Wintereinbruch die Kampfhandlungen erneut einfrieren lassen – und das in einem für die Ukraine schlechten Zustand. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zur aktuellen Lage an der Front.
Wie sieht es aktuell an der Frontlinie aus?
Besonders hart umkämpft war und ist die Stadt Pokrowsk, auf die es das russische Militär abgesehen hat. Seit dem Sommer rückten die Russen in der Region laut «Spiegel»-Informationen über 16 Kilometer vor. Im Oktober nahm Russland die beiden Donbass-Ortschaften Wuhledar und Selydow ein. Ausserdem stiessen die Russen bei der Stadt Kupjansk im nordöstlichen Gebiet Charkiw vor.
An der südlichen Front kommt es ebenfalls vermehrt zu Luftangriffen durch Russland. Die Russen bereiten sich laut AFP seit mehreren Wochen, auf Angriffsoperationen in mehreren Richtungen vor, insbesondere in Richtung Saporischschja.
Den Ukrainern gelingt währenddessen die Verteidigung der strategisch wichtigen Ortschaft Tschassiw Jar, die bei einer russischen Einnahme den Weg nach Kramatorsk öffnen würde. Für die ukrainischen Streitkräfte wäre dies ein strategisches Horrorszenario. Hier liefern sich die Truppen dementsprechend heftige Kämpfe – Russland möchte Kramatorsk um jeden Preis einnehmen, die Ukraine versucht dies mit aller Kraft zu vermeiden.
Wieso wären diese Verluste so schlimm für die Ukraine?
Pokrowsk und die umliegenden Ortschaften sind strategische Knotenpunkte für die Ukraine. In Kramatorsk ist ein wichtiges Operationszentrum der ukrainischen Armee stationiert. Pokrowsk selbst gilt als «Eingang» zum Donbass - ein grosser Bahnhof und eine Autobahn verknüpfen die Donbass-Stadt mit dem Westen der Ukraine. Die Stadt ist eine wichtige logistische Verkehrsader für ukrainische Soldaten, die zwischen Pokrowsk und den oberen Teilen des Gebiets Donezk – wie Kramatorsk und Sloviansk – unterwegs sind.
In Umkehrung würde Pokrowsk für die russische Armee einen bedeutenden Teilsieg auf dem Weg, weitere Gebiete im Westen der Ukraine einzunehmen, bedeuten. Gleichzeitig würde es Russland gelingen, eine wichtige Lebensader des ukrainischen Militärs abzuklemmen. Ähnliche Szenarien sind in Kupjansk, nördlich von Pokrowsk, absehbar.
Warum stehen die Ukrainer im Donbass so schlecht da?
Das ukrainische Militär ist aufgrund seiner Offensive in der russischen Region Kursk im Donbass stark angeschlagen. Entgegen der ukrainischen Erwartungen zog Russland kaum Truppen aus dem Donbass ab, um auf den Angriff auf eigenem Boden zu reagieren. Zudem ist die ukrainische Armee generell ausgelaugt, unterbesetzt, überlastet. Im Mai trat zwar ein neues Mobilisierungsgesetz in Kraft, doch das Militär hat noch immer Mühe, Verluste durch Neuzugänge auszugleichen.
Russland hingegen lernte in den letzten Monaten einiges dazu: Lange Zeit rannten die russischen Truppen scheinbar rücksichtslos und in riesigen Gruppen auf den Feind zu. Diese Taktik bewährte sich nicht. Neuerdings, wie die US-Denkfabrik ISW anmerkt, gehen die russischen Truppen in kleineren Truppen vor und nutzen zudem schwere Waffen wie Gleitbomben. Das ukrainische Militär kann dem kaum etwas entgegensetzen.
Welche Rolle spielen die nordkoreanischen Soldaten im Krieg?
Über 10'000 Soldaten soll Nordkorea zur Unterstützung Russlands in den Ukraine-Krieg entsendet haben. Wie die «New York Times» Anfang Woche berichtete, ist auch klar, wo sich ein Grossteil dieser Soldaten aufhält: In der russischen Region Kursk, die im Sommer von der Ukraine angegriffen wurde – dort baute Russland über Wochen eine 50'000 Mann starke Truppe auf.
Die Truppe soll von der Ukraine eroberte Gebiete in der Region Kursk zurückerobern. Das berichtet die US-Zeitung unter Berufung auf amerikanische und ukrainische Beamte. Laut diesen Beamten sei es Russland gelungen, diese Truppe zusammenzustellen, ohne Soldaten aus dem Osten der Ukraine abzuziehen. Die nordkoreanischen Soldaten ermöglichen es Russland also, an mehreren Fronten aktiv zu sein – ohne schwächer dazustehen.
Ist Russland auf dem Schlachtfeld wirklich so übermächtig?
Aktuell wirkt es so – aber auch die russische Armee musste heftige Verluste einstecken: Wie Nato-Generalsekretär Mark Rutte (57) letzte Woche sagte, verlor Russland seit Beginn der Invasion über 600'000 Soldaten. Seit Anfang 2022 verlor Russland stets mehr Material als die Ukraine, wie das Open-Source-Projekt Oryx schreibt: Beinahe 19'000 Geräte, darunter mindestens 3500 Panzer verlor die russische Armee bislang. Auf ukrainischer Seite sind es fast 7000 Stück, einschliesslich knapp 1000 Panzer.
Schwaz auf Weiss sieht es also für die Ukrainer besser aus – aber: Russland hat viel mehr Ressourcen zur Verfügung als die Ukraine. Nicht nur hat Russland ein grösseres Waffenarsenal, sondern auch weitaus mehr Geld und Personal als die Ukraine. Zudem war Russland besser auf einen solchen Krieg vorbereitet als die Ukraine. Ohne die Militärhilfe aus dem Westen wäre die Ukraine nicht dazu in der Lage, sich gegen Russland zu verteidigen. Doch ob sie weiter auf Unterstützung hoffen kann, ist fraglich.