Der russische Aussenminister Sergej Lawrow (72) sieht die USA als Hauptschuldigen und zugleich grössten Nutzniesser des Ukraine-Konflikts.
Strategisches Ziel der USA und ihrer Verbündeten in der Nato sei ein «Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld», um Russland zu schwächen oder gar zu vernichten, sagte Lawrow in einem Interview der russischen Staatsagentur Tass am Dienstag. Um dies zu erreichen, seien die Gegner Moskaus «zu vielem bereit».
«Der Hauptnutzniesser in diesem ‹brennenden Konflikt› sind die USA, die daraus den maximalen Nutzen sowohl im wirtschaftlichen als auch militärisch-strategischen Bereich ziehen wollen», sagte Lawrow. Daneben verfolge Washington noch ein weiteres geopolitisches Ziel – die Zerstörung der traditionellen Beziehungen Russlands zu Europa.
«Überstürzter Zusammenstoss mit der russischen Armee unvermeidlich»
Das russische Militär war am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert, mit dem Auftrag, das Land zu «entnazifizieren und entmilitarisieren», wie es in Moskau hiess. Wegen dieses Angriffskriegs, der bisher Tausende von Menschenleben gefordert hat, verhängten die USA, die EU und eine Reihe westlicher Staaten harsche Sanktionen gegen Russland. Die Ukraine erhält zudem militärische Unterstützung in Form von Waffen und Munition aus dem Westen.
Aus Sicht Lawrows unternehmen die USA alles, um den Konflikt zu verschärfen. Kiew werde mit den modernsten Waffen versorgt, die noch nicht einmal an die westlichen Verbündeten der USA geliefert worden seien, behauptete Lawrow. Allein die in diesem Jahr geleistete militärische Unterstützung von 40 Milliarden Dollar übersteige den Verteidigungshaushalt mancher europäischen Staaten.
Auf der anderen Seite versuche Kiew, «die Amerikaner und andere Nato-Mitglieder tiefer in den Strudel des Konflikts zu ziehen, in der Hoffnung, einen überstürzten Zusammenstoss mit der russischen Armee unvermeidlich zu machen».
Einsatz von Atomwaffen angedeutet
Der Westen spekuliere ständig, dass Russland kurz davor stehe, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen, kritisierte Lawrow. «Wir sprechen hier über ganz andere Angelegenheiten – der politische Kurs des Westens, der auf die totale Zurückhaltung Russlands abzielt, ist extrem gefährlich. Er birgt Risiken eines direkten bewaffneten Zusammenstosses der Atommächte», behauptete er.
Tatsächlich hatte Russlands Präsident Wladimir Putin (70) als Erster den möglichen Einsatz von Atomwaffen angedeutet und die nukleare Bedrohung ins Spiel gebracht.
Ein Ende des Konflikts sei möglich, hänge aber von Kiew und Washington ab. Als Bedingungen nannte Lawrow die Forderungen nach «Entnazifizierung und Entmilitarisierung» der von Kiew kontrollierten Gebiete sowie Sicherheitsgarantien für Russland und seine «neuen Gebiete». Gemeint sind die von Russland besetzten und völkerrechtswidrig annektierten Regionen im Süden und Osten der Ukraine. Die 2014 annektierte Krim erwähnte Lawrow überhaupt nicht.
Den Bedingungen Lawrows stehen die Forderungen Kiews zur Beendigung des Konflikts diametral gegenüber. Kiew fordert den vollständigen Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine, einschliesslich der Krim, als Vorbedingung für Verhandlungen. Dazu verlangt die ukrainische Führung von Moskau auch Reparationszahlungen für die Kriegsschäden.
«Von unserer Seite wird es dann keine Probleme geben»
In seinem Rundumschlag gegen alle «Unfreunde» Moskaus sah Lawrow zudem die Beziehungen Russlands zur EU auf einem «historischen Tiefpunkt». Schliesslich habe Brüssel, den USA und der Nato folgend, seinem Land den hybriden Krieg erklärt. «Tatsächlich folgen sie (in Brüssel) dem antirussischen Kurs der Hegemonie in Übersee in allen Punkten fraglos, manchmal preschen sie sogar vor.»
Daher könne es mit derartigen Gegnern auch kein «business as usual» geben. Zudem habe Russland auch genügend Freunde und Gleichgesinnte in anderen Teilen der Welt. Allerdings machte Lawrow auch deutlich, dass Russland für eine Wiederherstellung der Beziehungen mit der EU bereit sei, wenn dort der «russophobe Wahn» vorbei sei, Nüchternheit eintrete und Regierungen sich auf gegenseitig nützliche partnerschaftliche Beziehungen besinnen würden. «Von unserer Seite wird es dann keine Probleme geben», sagte er.
Die Beziehungen Moskaus zu Washington sah Lawrow in einem «höchst beklagenswerten Zustand». Dabei wären normale Verhältnisse zwischen zwei Nuklearmächten durchaus wünschenswert und nützlich. «Angesichts der offen feindseligen Aktionen Washingtons ist es jedoch nicht möglich, wie gewohnt weiterzumachen.» Daher werde in den weiteren Plänen Moskaus das Prinzip der «friedlichen Koexistenz» aus den Zeiten des Kalten Kriegs angewandt. (SDA/jmh)