Corona ist in voller Fahrt – und Karl Lauterbach (57) ist es auch. BLICK erwischt den bekannten SPD-Abgeordneten am Telefon im Zug, bevor er mit Christian Drosten und anderen Epidemiologen und Virologen die deutsche Corona-Strategie für die Schulen diskutieren will. Die Schweizer hat der twitterfreudige Gesundheitsexperte gerade ziemlich abgekanzelt.
Auf Twitter greifen Sie die Schweiz scharf an, reden von einem «unverzeihlichen Politikversagen». Was haben wir falsch gemacht?
Im Sommer ist die Gelegenheit verpasst worden, sich auf eine zweite Welle vorzubereiten. Dabei war ja eigentlich klar, dass die kommt. Ich habe einige Kontakte in die Schweiz. Soweit ich das verfolge, hat nicht viel Vorbereitung stattgefunden. Man hat etwa keine Konzepte für Schulen vorbereitet, Intensivkapazitäten in Spitälern nicht ausreichend ausgebaut und die Bevölkerung nicht gewarnt.
Aber der Bundesrat hat doch ständig informiert.
Soweit ich es verstehe, nicht darüber, wie gefährlich Aerosole in Innenräumen sind. Restaurants zum Beispiel wurden als Infektionsherde kaum beachtet und der Bevölkerung nicht bekannt gegeben. Die Schweizer Bevölkerung hat wohl gedacht, das Schlimmste sei schon hinter ihr, und ihr war nicht klar, dass man das mit Masken und Abstandsregeln langfristig in den Griff bekommen muss.
Also vor allem ein kommunikatives Problem?
Das Kommunikative ist 90 Prozent des Geschäfts. Die Bevölkerung muss sich am Ende selbst schützen. Der Selbstschutz funktioniert nicht, wenn man die Pandemie nicht versteht.
Was hat Deutschland besser gemacht?
Die Bevölkerung wusste im Grossen und Ganzen, dass Aerosolübertragung gefährlich ist. Die zentrale Bedeutung des Lüftens hat man in der ersten Welle nicht gekannt – später wusste das aber jeder. Trotzdem haben auch wir grosse Probleme gehabt und haben sie bis heute.
Zeigen nicht Länder wie Frankreich und Spanien, dass auch eine frühe Maskenpflicht und Ausgangssperren nicht vor der zweiten Welle schützen?
Nein. Länder mit harten Massnahmen, die trotzdem wieder schwer betroffen waren, haben zu spät gegengesteuert.
Die Schweiz setzt auf Vernunft und Eigenverantwortung. Was ist daran denn falsch?
In einer Pandemie kommt es in erster Linie darauf an, wie man andere schützt statt sich selbst. Es gibt viele, die für sich selbst kaum ein Risiko haben – sie können aber andere tödlich infizieren. Es ist wichtig, dass ich mich selbst schütze, aber noch wichtiger, dass ich andere schütze. Wer sich nur selbst schützt, schützt nicht genug.
In der Schweiz scheint gerade die Trendwende geschafft. Die Neuansteckungen sinken, die Taskforce ist «vorsichtig optimistisch». Zeigt das nicht, dass es ohne zweiten Lockdown geht?
Das kann ich nicht beurteilen, da fehlen mir die genauen Daten.
Die Schweiz ist sehr stolz darauf, der Wirtschaft weniger geschadet zu haben als andere Länder.
Erstens ist das aus meiner Sicht nicht richtig – der wirtschaftliche Schaden in Deutschland ist nicht viel höher. Zweitens fände ich es armselig, wenn man stolz darauf ist, die Wirtschaft gerettet zu haben, wenn dafür sehr viele Leute sterben.
Sie und Bundesrat Alain Berset sind beide Sozialdemokraten. Haben Sie in der Corona-Krise persönlich Kontakt gehabt?
Nein. Ich habe keine Anfrage gehabt, also habe ich mich auch nicht eingemischt.
Was sollte die Schweiz jetzt tun?
Ich bin gerade im Zug und möchte aus Deutschland heraus keine Ratschläge geben.
Trotz deutlich niedriger Infektionszahlen ist Deutschland seit Anfang November im zweiten Lockdown. War das nicht übertrieben?
Nein, das war allerhöchste Eisenbahn. Wir haben sehr spät, aber dann gut reagiert. Und jetzt müssen wir noch mehr machen, um die Probleme in den Schulen und bei privaten Feiern in den Griff zu bekommen.
Woran denken Sie?
Wir brauchen meines Erachtens Schulteilungen, mehr Luftfilteranlagen, ein anderes Quarantänekonzept. Die Quarantäne ist immer noch zu unkontrolliert, dauert zu lange, und es gibt keine Testung.
Der SPD-Politiker und Arzt Karl Lauterbach (57) ist eines der bekanntesten deutschen Gesichter der Corona-Krise – weil er in Talkshows und auf Twitter unermüdlich zur Pandemie informiert und für harte Massnahmen wirbt. Der Gesundheitsexperte ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Uni Köln, als Bundestagsabgeordneter aber seit 2005 beurlaubt. An der US-Elite-Universität Harvard hält Lauterbach eine ausserordentliche Professur.
Der SPD-Politiker und Arzt Karl Lauterbach (57) ist eines der bekanntesten deutschen Gesichter der Corona-Krise – weil er in Talkshows und auf Twitter unermüdlich zur Pandemie informiert und für harte Massnahmen wirbt. Der Gesundheitsexperte ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Uni Köln, als Bundestagsabgeordneter aber seit 2005 beurlaubt. An der US-Elite-Universität Harvard hält Lauterbach eine ausserordentliche Professur.