Herr Weder, wie bewerten Sie das Ergebnis des Gipfels?
Als ausgewogen, wenn man es auf der Basis der vorher eingereichten Vorschläge bewertet.
Fünf kleine westeuropäische Staaten haben sich erfolgreich gegen zu hohe Zuschüsse ohne Rückzahlung gewehrt. Warum waren sie gegen den Vorschlag von Merkel und Macron?
Diese Länder haben eine etwas andere Vorstellung zur Weiterentwicklung der EU: mehr Eigenverantwortung der einzelnen Länder, geringere Transfers, weniger politische Integration.
Der französische Präsident ärgerte sich über die Opposition…
Das ist nicht erstaunlich. Seine Vorstellung von der künftigen EU ist meines Erachtens sehr zentralistisch geprägt mit einer starken Stellung Frankreichs – und wohl gleichzeitig möglichst breiten Abdeckung Europas.
Was halten Sie selber von den Einwänden der kleinen Staaten?
Als Ökonom bin ich immer wieder erstaunt darüber, was die EU für die Erhaltung der gemeinsamen Währung alles macht, die alles andere als essenziell ist. Und darum geht es meines Erachtens bei den nun gewährten 390 Milliarden an Zuschüssen und den 360 Milliarden an Krediten. Ohne Währungsunion würde man kaum über das Defizit in Ländern wie in Italien sprechen. Es wäre normal, dass ein Land, das sich entscheidet, relativ hohe Staatsausgaben und damit ein relativ hohes Defizit zu haben, dieses selber finanzieren muss.
Was kann denn Italien dafür, dass es von der Pandemie so getroffen wurde?
Das hat auch mit der eigenen Politik – auch der Gesundheitspolitik – und wohl auch den speziellen Eigenarten Italiens zu tun. Es wäre normal, dass das Land die Finanzierung selber sicherstellt. Im Extremfall würde der Internationale Währungsfonds einspringen. Die Zinsen würden für Italien entsprechend steigen, was Italien wohl schon lange dazu gebracht hätte, das Defizit geringer zu halten. Zudem würde sich die Währung etwas abwerten, was für die Bewältigung der Krise einfacher wäre.
Ist denn der Euro schuld an allem?
Man hätte sich in Brüssel ohne Euro gar nicht gross unterhalten müssen. Kein grosser Streit, Konzentration auf die anderen Teile des Budgets. Die Erhaltung des Euro erzwingt aber immer diese Diskussionen, eine gewisse Solidarität und einen Transfer in Richtung der Länder, die über ihre Verhältnisse leben. Corona ist da nur ein Beispiel von vielen. Und in der Regel sind die Länder immer zu einem erheblichen Teil selber schuld, wenn sie in diesen Krisen ein Problem haben.
Was muss die EU aus dem Gipfel lernen?
Müsste ich eine Empfehlung machen, würde ich der EU raten, bald einmal grundsätzlich über die Strategie und die eigenen Ziele nachzudenken und zu diskutieren. Und zwar nicht in der EU-Kommission, sondern in den einzelnen Mitgliedsländern.
Bei welchen Fragen sehen Sie denn Handlungsbedarf?
Soll die EU so gross sein und immer noch grösser werden? Ist der Euro wirklich so wichtig oder allenfalls nur geeignet für eine kleine Gruppe von stabilen Ländern? Wie viel politische Integration, das heisst Zentralisierung von wirtschaftspolitischen Massnahmen, will man? Soll dies immer für alle gelten oder wäre es möglich, verschiedene Gruppen von Mitgliedern zu haben?
Wie sehen Sie die Zukunft der EU?
Führt man die oben genannten Überlegung nicht bald, besteht die Gefahr, dass das «Fuder bald überladen» wird und der Wagen zusammenbricht. Natürlich kann man das mit immer mehr, zum Teil künstlich geschaffenem Geld hinausschieben. Aber eine langfristige Lösung ist das nicht. Oder man muss wirklich offen die Karten auf den Tisch legen und sagen, dass man einen gemeinsamen Staat, die Vereinigten Staaten von Europa, anstrebt. Dann werden aber einige Länder sich nochmals gut überlegen, ob sie Teil dieses Staates werden wollen.