In den 50er-Jahren startete ein junger Doktorand seinen kometenhaften Aufstieg in die heiligen Hallen der deutschen Grossdenker mit einem Artikel für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Darin kritisierte er 1953 die Nazi-Nähe des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976).
Heute ist Jürgen Habermas 93 Jahre alt und gilt im Land der Dichter und Denker als lebendes Denkmal, als Gigant der Sozialphilosophie. Seine Anhänger sehen ihn durchaus auf Augenhöhe mit Kant und Hegel.
Unbestritten ist, dass die Art, wie wir den Platz der Massenmedien und ihre Funktion in der Gesellschaft heute ganz selbstverständlich begreifen, wesentlich von Habermas und seiner frühen Schrift über den «Strukturwandel der Öffentlichkeit» geprägt wurde.
Wer sich in solchen Sphären bewegt, setzt sich allerdings dem Risiko einer entsprechenden Fallhöhe aus, was der Professor aus Starnberg dieser Tage, im Spätherbst seiner Laufbahn, verblüffend deutlich beweist – ironischerweise wieder mit einem Zeitungsartikel.
Für Frieden sind alle
Via «Süddeutsche Zeitung» griff der Intellektuelle, der unverständlich nuschelt und vielleicht gerade deshalb sein Leben der Kommunikationsforschung gewidmet hat, in die Debatte über Waffenlieferungen für die Ukraine ein. «Ein Plädoyer für Verhandlungen» heisst der Essay im Soziologenduktus, ein verstörendes Dokument, das ernsthafte Zweifel daran aufkommen lässt, wie weit die deutsche Nation ihr Weltkriegstrauma überwunden hat.
Habermas weibelt für Frieden in der Ukraine, und schon da beginnt das Problem, das neuen deutschen Friedensaposteln wie Sahra Wagenknecht (53), Alice Schwarzer (80) oder Richard David Precht (58) anhaftet: Für Frieden sind nämlich alle, sogar Wladimir Putin (70). Nur hätte der Kreml-Chef gerne keinen ukrainischen, sondern einen russischen Frieden, eine «Pax Russica» oder «Russki Mir», also das Schweigen der Waffen auf dem Boden einer vernichteten ukrainischen Nation.
Um diesen nicht näher beschriebenen Frieden zu erreichen, verlangt Habermas Verhandlungen – ohne auf die Frage einzugehen, wie die Gegenseite an den Verhandlungstisch gebracht werden soll.
Natürlich ist der preisgekrönte Wissenschaftler nicht so plump wie Schwarzer und Co., sondern bezeichnet Russland mehrmals als «kriminellen Aggressor» und gibt seinen Ausführungen einen differenzierten Anstrich.
Man braucht aber nicht tief zu bohren, um bis zu skandalösen Verdrehungen und Verwedelungen zu gelangen. So halluziniert Habermas vom «bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung», der es entgegenzutreten gelte.
Bellizismus bedeutet Kriegsbegeisterung, die aber ist bislang einzig und allein bei der russischen Führung und ihren Lakaien auszumachen. Wer die Hilfsbereitschaft des Westens für die Ukraine bellizistisch nennt, spielt der Kreml-Propaganda in die Hände.
«Victim Blaming»
Nicht weniger abenteuerlich ist die Aussage, dass die westlichen Regierungen «eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen» tragen, «die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden». Man braucht kein Ethikseminar besucht zu haben, um zu wissen, wer am Tod russischer Soldaten im Gefecht schuld ist: Es sind Putin und seine Mittäter, die ihre Truppen völkerrechtswidrig an die Front geschickt haben, und niemand sonst.
Solche Ausführungen laufen auf ein perfides Denkmuster hinaus, nämlich auf eine Umdeutung dieses nun schon ein Jahr dauernden brutalen russischen Überfalls zu einer 1:1 geteilten Verantwortung zweier Parteien. Das ist angesichts der ukrainischen Opfer von Massakern, Vergewaltigungen und Verschleppungen genauso infam wie jene saloppe Bemerkung eines österreichischen Rechtspopulisten, wonach es zum Streiten eben immer zwei brauche.
Dass sich Habermas zu dieser Art des «Victim Blaming» hinreissen lässt, ist auch deshalb tragisch, weil er als Absender ein ungleich grösseres Schwergewicht ist als Talkshow-Figuren wie die «Emma»-Gründerin Schwarzer, die Linke-Politikerin Wagenknecht oder der Vulgärphilosoph Precht («Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?»).
Dass sich auch die begnadete Schriftstellerin Juli Zeh (48, «Über Menschen») in die Reihe der unheimlichen Friedensengel gesellt, überrascht indes mehr als das Engagement der Linke-Ikone Gregor Gysi (75). Während beim Ostdeutschen mit seiner DDR-Vergangenheit wohl eine alte Moskau-Orientierung hervortritt, dürften bei Habermas andere Lebenserfahrungen massgebend sein. 1929 als Sohn eines NSDAP-Mitglieds geboren und Teenager im Zweiten Weltkrieg, gehört Habermas der Generation «Nie wieder Krieg!» an.
Was will Habermas eigentlich erreichen?
Deren Pazifismus ist seit dem 24. Februar 2022 allerdings so beliebig geworden wie regenbogenfarbene Peace-Fahnen.
Das grösste und wichtigste europäische Land ist heute ein Sympathieträger, weshalb der jüngste Habermas-Artikel umso irritierender wirkt. So hält er fest, dass die Ukraine «unter den verspäteten europäischen Nationen die allerspäteste» sei. Ein Satz von ungeheurer Arroganz. Abgesehen davon, dass es die BRD auch erst seit 1949 gibt, stellt sich die Frage, was dieser Umstand mit der Bewertung russischer Kriegsverbrechen zu tun haben soll – und ob sich hier eine Renaissance des «hässlichen Deutschen» anbahnt.
Was will Habermas mit Putin eigentlich aushandeln? Ihm fällt dazu nicht viel mehr ein als «die Suche nach erträglichen Kompromissen» und einer «für beide Seiten gesichtswahrenden» Lösung. Kompromisse aber könnten aus russischer Sicht nur territoriale sein – eine Entwaffnung ist für Kiew tabu –, womit man wieder bei dem Problem landet, dass solche Friedensappelle nichts anderes sind als die Forderung an die Ukraine, ohne Garantie aus Moskau Opfer zu bringen. Und wieso muss eine Lösung «für beide Seiten» gesichtswahrend sein? Wo droht der Ukraine und ihrem Präsidenten ein Gesichtsverlust?
Das Lebenswerk von Habermas ist zu gross, um zerstört zu werden. Aber ein Taubenschiss auf dem Denkmal bleibt.