Die US-Demokratie steckt knietief im Schlamm – ausgerechnet wegen jener Vertreter der US-Republikaner, die laut verkünden, sie wollten «den Sumpf in Washington trockenlegen». Das Repräsentantenhaus, der amerikanische Nationalrat, hat keinen Sprecher mehr. Radikale Vertreter seiner eigenen Partei haben den Republikaner Kevin McCarthy (58) am Dienstag abgesetzt, weil er in den Verhandlungen über das Haushaltsbudget den Demokraten zu stark entgegengekommen sei. Ein Novum in der 247-jährigen Geschichte Amerikas.
Ein Repräsentantenhaus ohne Sprecher läuft genauso rund wie eine Hochzeit ohne Tätschmeister – nämlich gar nicht. Die US-Demokratie liegt im Koma. Bis auf Weiteres gibts keine neuen Gesetze, keine Entscheide. Würde das nur die Amerikaner selbst betreffen, könnte man das Polit-Drama entspannt mitverfolgen. Doch das Chaos in Washington betrifft auch uns in Europa direkt.
Das Koma hat drei gefährliche Konsequenzen:
Die mächtigste Armee der Welt am Boden
Der Stillstand im Repräsentantenhaus fällt in jene Zeit, in der Amerika über sein Haushaltsbudget entscheiden muss. Das vergangene Woche beschlossene Notfallbudget hält nur bis zum 17. November. Danach droht dem mächtigsten Land der Welt erneut die Zahlungsunfähigkeit. Das heisst unter anderem: kein Lohn mehr für Soldaten und Grenzwächter. In der Schwebe stünden die Schutzfunktion internationaler Handelswege, der Betrieb der rund 750 Armeestützpunkte und das Aufrechterhalten der nuklearen Bereitschaftskräfte.
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Todesstoss für die Ukraine
Für neue Ukraine-Hilfen braucht US-Präsident Joe Biden (80) die Zustimmung des Parlaments. Bleibt das im Koma liegen, muss Kiew auf seinen mit Abstand grosszügigsten Geldgeber verzichten. Das käme einer vorzeitigen Niederlage im Krieg gegen Russland gleich. 42 Milliarden Dollar direkte Militärhilfe hat Washington seit Kriegsausbruch an die Ukraine geliefert – mehr als alle anderen Länder zusammengenommen.
Machtvakuum im Weissen Haus
Der Sprecher des Repräsentantenhauses ist die Nummer zwei in der amerikanischen Thronfolge, direkt hinter der Vizepräsidentin. Sollte das schlimme Szenario eintreffen, dass sowohl Joe Biden als auch seine Stellvertreterin Kamala Harris (58) plötzlich ausfallen würden, wäre die USA führungslos. Das folgende Chaos würde weltweit für extreme Verunsicherung sorgen.
Über die Nachfolge von Kevin McCarthy wird frühestens in einer Woche entschieden. Zur Erinnerung: Es brauchte 15 Wahlgänge, bis sich die zerstrittenen US-Parlamentarier vor neun Monaten auf McCarthy einigen konnten. Es gibt keine Anzeichen, dass es beim nächsten Mal schneller gehen wird.
Ein Szenario gibt in Washington jetzt schon viel zu reden: Mehrere Abgeordnete bringen Donald Trump (77) als nächsten Sprecher ins Spiel. Möglich wäre das. Der Sprecher muss selbst nicht Mitglied im Parlament sein. Juristische Immunität bringt der Job zwar nicht mit sich. Aber jede Menge Macht und Bildschirm-Präsenz.