Südkorea hat rund sechsmal so viele Einwohner wie die Schweiz – und mit 313 Corona-Toten dennoch nur einen Bruchteil der Todesfälle. Von April bis August lag die Zahl der täglichen Neuinfektionen stabil unter 100 Fällen pro Tag.
Doch die Entspannung ist vorbei: Die Corona-Fälle steigen, die Intensivbetten werden knapp – und die Infektionsketten sind unklar. Der ehemalige Corona-Musterschüler kämpft mit vielen Neuinfektionen. Am Donnerstag meldeten die Südkoreaner 441 neue Fälle – die höchste Fallzahl an einem Tag seit 7. März! Besonders heftig betroffen sind die Hauptstadt Seoul sowie die hauptstadtnahen Städte Incheon und Gwangju.
Südkorea denkt über kompletten Lockdown nach
«Die Regierung ist sich des Ernstes der Situation bewusst und erwägt alle Möglichkeiten, einschliesslich einer Verschärfung der Social-Distancing-Regeln auf das höchste Niveau, und wir werden umgehend und mutig die notwendigen Massnahmen ergreifen», versprach Yoon Tae-ho vom südkoreanischen Gesundheitsamt laut «The Korea Herald» bei einem Briefing am Donnerstag.
Im Klartext: Es geht um Stufe 3 – ein vollständiger Lockdown! Bereits seit zehn Tagen befindet sich Südkorea, das wie etwa Südafrika gegen die Virusausbreitung mit einem Stufenplan arbeitet, auf Stufe 2. In Seoul und der angrenzenden Provinz Gyeonggi sind öffentliche Einrichtungen einschliesslich Wohlfahrtszentren, Büchereien und Museen geschlossen.
Clubs, Karaokebars, Fitnessstudios und Konzerthallen können wieder geschlossen werden, wenn Schutzmassnahmen wie die Erstellung von Besucherlisten nicht eingehalten werden. Zudem werden erneut keine Fans zu Spielen der Fussball- und Baseball-Ligen zugelassen, nachdem die Stadien für Zuschauer teilweise wieder geöffnet worden waren.
Die Behörden sind aus drei Gründen nervös:
1. Die Intensivbetten sind knapp
Die Spitäler sind fast voll. Im gesamten Land sind nach Berichten von «The Korea Herald» nur noch 62 von 519 Krankenzimmer mit Intensivbetten und Beatmungsgeräten frei. In der Metropolregion sind die Kapazitäten noch knapper: Seoul meldet nur noch elf freie Zimmer, Incheon drei und die Provinz Gyeonggi fünf.
Ein grosses Problem: Corona-Patienten müssen erstens isoliert behandelt werden und sind zweitens meist wochenlang auf der Intensivstation. Das blockiert die knappen Ressourcen.
Die Ärzte haben jetzt schon Angst, im Zweifelsfall auch Nicht-Corona-Patienten nicht angemessen behandeln zu können. «Die Situation kann noch ernster werden, wenn der Bettenmangel anhält, da er sogar zu vermehrten Todesfällen nicht nur durch Covid-19, sondern auch durch andere Krankheiten führen kann», sagt Jung Ki-suck, Arzt am Sacred Heart Hospital der Hallym-Universität.
2. Die Infektionsketten sind unklar
«Bei 30 Prozent der Patienten wissen wir nicht, wo sie sich angesteckt haben», gab Kwon Jun-wook vom koreanischen Zentrum für Infektionskrankheiten zu.
Dass die Infektionsketten nicht nachvollziehbar sind, erschwert es den Behörden, die Ausbreitung einzudämmen. Wer muss informiert und in Quarantäne gesetzt werden? Welche Institutionen und Orte müssen eventuell vorläufig geschlossen werden?
Klappt das Tracking und Tracing nicht, fischen die Behörden selbst im eigentlich gut gerüsteten Südkorea im Dunkeln. Im Zweifelsfall bleibt ihnen nur der Holzhammer: ein kompletter Lockdown. Das würde die viertgrösste asiatische Volkswirtschaft empfindlich treffen.
Eine Mitschuld am Desaster tragen offenbar die Kirchen. Das Gesundheitsministerium kündigte am Sonntag an, gegen den Pastor der Sarang-Jeil-Kirche in Seoul, Jun Kwang Hoon, Anzeige zu erstatten.
Dem rechtskonservativen Pastor, der sich als lautstarker Kritiker der sozialliberalen Regierung hervortut, wird vorgeworfen, die epidemiologischen Untersuchungen der Behörden zu behindern und eine nur unvollständige Liste von Kirchenmitgliedern übergeben zu haben.
3. Eine neue Virusvariante ist im Umlauf
Ein Grund, wieso Südkorea das Virus offenbar jetzt nicht mehr im Griff hat: Eine neue Virusvariante ist aus Europa, Nordamerika und dem Nahen Osten herübergeschwappt. Und die Mutation sei sechsmal ansteckender als die ursprüngliche Virusform. Das teilten die Gesundheitsbehörden in dieser Woche mit.
Bereits im März meldeten chinesische Wissenschaftler die erste Mutation von Sars-Cov-2, dem neuartigen Coronavirus. Die Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet aktuell sechs Klassen beziehungsweise Gruppen von Virusstämmen: S, V, L, G, GH und GR.
Die Varianten, die während des Covid-19-Ausbruchs im Frühjahr in Genomproben gefunden wurden, gehörten nach Angaben des südkoreanischen Gesundheitsministeriums zumeist zur S- und V-Klasse, die in China, wo das Coronavirus vermutlich seinen Ursprung hat, und in anderen Teilen Asiens vorherrschten. Die GH-Variante ist in Nordamerika, Europa und im Nahen Osten im Umlauf.
Dass ein neu verbreiteter Virusstrang ansteckender ist, kann Vor- und Nachteile haben. Zum einen hat ein Virus vor allem das Interesse, sich auszubreiten – und nicht, seinen Wirt zu töten. Eine höhere Ansteckungsrate muss also nicht gleichbedeutend mit einer höheren Todesraten sein. Auf der anderen Seite erschweren Mutationen die Behandlung der Erkrankung und die Entwicklung eines Impfstoffes.
Südkoreas Behörden erwarten den Höhepunkt der aktuellen Welle erst noch. «Bitte bleiben Sie zu Hause und tragen Sie eine Maske, wenn Sie ausgehen», appelliert der Direktor des Zentrums für Infektionskrankheiten, Jeong Eun Kyeong. Nur die Einhaltung der Distanzregeln könnten sicherstellen, dass «wir unsere Studenten weiter ausbilden, unsere lokale Wirtschaft unterstützen und den Zusammenbruch des medizinischen Systems verhindern können». Und die medizinische Versorgung von Corona wie Nicht-Corona-Patienten sicherstellen können.