Zerstörte Stadtviertel, Schlammlawinen, Trümmer und Tausende Tote: Vier Tage nach den verheerenden Überschwemmungen im Osten Libyens ist am Mittwoch das Ausmass der Katastrophe deutlich geworden. Die genaue Zahl der Toten sei weiter schwer zu bestimmen, sagte ein Regierungssprecher. Hunderte unidentifizierte Leichen seien in Massengräbern beerdigt worden, nachdem am Dienstag schon mehr als 2000 identifizierte Opfer begraben worden waren.
Die Regierung befürchtet bis zu 9000 Tote. Rund 25 Kilometer entfernt von der Küstenstadt Derna treiben immer noch Leichen im Meer. Die Hafenstadt ist besonders schwer betroffen, nachdem zwei Staudämme in der Nacht von Sonntag auf Montag gebrochen waren und ganze Viertel der Stadt ins Mittelmeer gespült hatten.
Die Dämme hätten vor Jahrzehnten saniert werden müssen
Die Dämme halten normalerweise das Wasser des Flussbetts zurück, das Derna durchquert. Doch auf eine solche Katastrophe waren die Dämme nicht vorbereitet. Dabei wussten die Verantwortlichen das genau, erklärt Politikwissenschaftler Wolfram Lacher.
Hinter der Katastrophe stecke mehr. «Es handelt sich nicht einfach um eine Naturkatastrophe, sondern um ein Ereignis, das sehr eng mit der politischen Situation in Libyen verknüpft ist», sagt Lacher im Interview mit dem ZDF. Denn die Dämme waren schon zu Zeiten von Muammar al-Gaddafi (1942-2011), der durch einen Putsch 1969 an die Macht kam, längst marode.
Lacher: «Gaddafi hat damals die Stadt dafür bestraft, dass in den 90ern in ihr Aufständische die Waffen ergriffen hatten. Und nach Gaddafis Sturz 2011 wurde dann jahrelang überhaupt nichts mehr in Infrastruktur investiert.»
Image ist wichtiger als tatsächlich zu helfen
Geld für die Sanierung sei schon da gewesen, nur eben nicht dafür benutzt worden. Stattdessen steckten es Verantwortliche einfach in die eigenen Taschen.
Auch jetzt sei es nicht besser. Nach dem Sturz des Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011 stürzte Libyen ins Chaos, inzwischen sind im Westen und Osten des Landes rivalisierende Regierungen an der Macht. Den Osten des Landes führt General Kalif Chalifa Haftar (79) an. Er und seine Leute seien berüchtigt für Korruption. «Man muss befürchten, dass es ihnen vor allem darum geht, als Hilfsbringer dazustehen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und weitaus weniger darum, tatsächlich auch etwas konkret zu leisten.»
Situation ist «schockierend und dramatisch»
Währenddessen leiden die Menschen im Katastrophengebiet. Nach Angaben der Weltwetterorganisation (WMO) verschwanden ganze Viertel, Bewohner wurden von den Wassermassen mitgerissen.
Die Lage in der Stadt sei «schockierend und dramatisch», sagte ein Sprecher der örtlichen Rettungsdienste. Das libysche Fernsehen zeigte Dutzende in Decken und Laken eingewickelten Leichen auf dem zentralen Platz der Stadt. Das Internationale Komitee von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond befürchtete mehrere Tausend Todesopfer in ganz Libyen. Es würden etwa 10'000 Menschen vermisst. Die benötigte Hilfe übersteige bei weitem die Kapazitäten des Roten Kreuzes und der Regierung in Libyen, betonte der Vertreter der Hilfsorganisation, Tamer Ramadan. (jmh/AFP)