Die Taliban sind an der Macht, haben das Land aber nicht unter Kontrolle. In den letzten 18 Monaten hatten die USA keinen einzigen gefallenen US-Soldaten in Afghanistan zu beklagen. Bei einem Selbstmordanschlag am Flughafen von Kabul kamen am Donnerstag gleich 13 US-Marines ums Leben. Es sind die schwersten US-Verluste im Land seit einem Jahrzehnt. US-Präsident Joe Biden (78) nannte die Gefallenen «Helden».
Biden schwor im Weissen Haus Rache und will die Attentäter zur Strecke bringen. Dabei hätten die alte Schutzmacht Afghanistans und die neuen Machthaber ein «gemeinsames Interesse», so Biden. Mit anderen Worten: Die beiden Kriegsfeinde, die USA und die Taliban, arbeiten in dieser Sache zusammen gegen einen gemeinsamen Feind: den Afghanistan-Ableger des Islamischen Staates (IS). Der bekannte sich zum Blutbad in Kabul. Zwei IS-Selbstmordattentäter sprengten sich am Donnerstag in die Luft: einer beim Flughafen, einer bei einem Hotel.
«Die Taliban sind keine guten Leute», sagte Biden. «Doch wir haben ein gemeinsames Interesse.» Die neuen Machthaber Afghanistans hätten ein vitales Interesse daran, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Die Taliban wollten nicht nur den Flughafen in Kabul weiter offenhalten, könnten dies aber nicht ohne Hilfe von aussen leisten, sagte er. Zudem hätten sie ein Interesse daran, die Wirtschaft nicht abstürzen zu lassen. Und: Die USA und die Taliban haben einen gemeinsamen Kriegsfeind, der jetzt das Machtvakuum im Land auszunutzen versucht: der Islamische Staat Khorasan, auch IS-K genannt oder IS-KP, Islamischer Staat Khorasan Provinz, der Afghanistan-Ableger der Terrorgruppe. Schon am Dienstag warnte Biden vor IS-K-Anschlägen.
5 Millionen Dollar Kopfgeld
Das Blutbad in Kabul wirft die Bemühungen der Taliban arg zurück, sich gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Welt als die neuen Herrscher zu zeigen, die Sicherheit und Stabilität bringen. Attentate waren auch unter der gestürzten, US-unterstützten afghanischen Regierung an der Tagesordnung. Doch jetzt werden die Taliban ausgerechnet von noch radikaleren Islamisten ausgehebelt. Die IS-Terrorgruppe bekannte sich zu den Anschlägen und feiert den Tod der US-Marines und Dutzenden von Zivilopfern, die ausser Landes zu fliehen versuchten, als Propagandaerfolg.
Während Flaggen in den USA nach dem Blutbad in Kabul auf halbmast gesetzt werden, setzten die Amerikaner zur Jagd auf die Attentäter an – und hoffen dabei auf Hilfe der Taliban. Dies, obschon die Taliban seit der Machtübernahme bereits zahlreiche inhaftierte Islamisten auf freien Fuss gesetzt haben. Zudem zeigen sich radikale Islamisten in Kabul auf offener Strasse. In sozialen Medien kursieren Videos von Heissspornen, die öffentlich Ausländer verwünschen.
Nicht zuletzt hat Kabul vergangene Woche auch Khalil Haqqani einen Heldenempfang bereitet. Die USA haben ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf den gesuchten Terroristen ausgesetzt. Es gibt selbst ein nach ihm benanntes Haqqani-Terrornetzwerk. Jetzt ist Haqqani, dem Pakistan – wie Osama bin Laden – jahrelang Schutz bot, für die Sicherheit in Kabul zuständig.
Geheimkampagne der USA
Nicht nur Haqqani und der mit den Taliban verfeindete IS sind in Afghanistan zurück. Paschtunische pakistanische Terrormilizen üben seit Jahren Einfluss auch über weitere zentralasiatische Nationen aus. Doch nach dem Totalabzug der Amerikaner dürften die Taliban vorab mit dem IS-K auf Kriegsfuss stehen. Befehle soll der zentralasiatische IS-Zweig aus den IS-Kernländern Irak und Syrien erhalten. In Afghanistan herrscht ein Machtvakuum, der IS-K nutzt die chaotische Lage.
Die Taliban und der IS-K befinden sich schon seit Jahren im Krieg, wie die «Washington Post» im Oktober 2020 berichtete. Letztes Jahr führten die USA sogar eine geheime Kampagne, die ihrem langjährigen Feind, den Taliban, helfen sollte, den Islamischen Staat in Afghanistan zu besiegen. Luftschläge von US-Kampffliegern verschafften den Taliban Terrainvorteile, um den IS-Feind in Schach zu halten.
Jetzt brüstet sich der IS-K mit dem verheerenden Terroranschlag am Kabuler Flughafen. Bei dem mutmasslichen Attentäter handelt es sich um Abdul Rahman al-Logari. Er habe alle Sicherheitsvorkehrungen überwinden können und sei «nicht mehr als fünf Meter vor den US-Soldaten» gestanden, als er seinen Sprengstoffgürtel zündete.