Amerikaner lassen Afghanistan im Elend zurück, Beamte sollen wieder zur Arbeit
Taliban in Not: «Wir brauchen euer Fachwissen, wenn die verrückten Ausländer weg sind»

Die Taliban übernehmen ein Land am Abgrund. Ein Drittel der Bevölkerung ist von Hunger bedroht. Die neuen Machthaber haben Beamte dazu aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren. Ihr Fachwissen werde dringend benötigt, wenn die «verrückten Ausländer» weg seien.
Publiziert: 26.08.2021 um 02:32 Uhr
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Aktualisiert: 26.08.2021 um 13:18 Uhr
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Die Taliban hissen ihre Flagge in Afghanistan – und erben von den Amerikanern immense Probleme.
Foto: Keystone
Daniel Kestenholz

Im ersten Interview mit westlichen Journalisten seit der Machtübernahme in Afghanistan haben die Taliban beteuert: Sie wollen Vergangenes vergangen sein lassen und den Neubeginn suchen. «Wir wollen die Zukunft aufbauen und vergessen, was in der Vergangenheit geschehen ist», sagte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid der «New York Times».

Mudschahid weist die weit verbreiteten Befürchtungen zurück, dass die Taliban bereits Rache an ihren Gegnern üben und die strenge Kontrolle der Frauen wieder einführen, für die sie vor über zwei Jahrzehnten an der Macht berüchtigt waren.

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Dabei riet er Frauen noch am Dienstag bei einer Pressekonferenz, zu ihrem eigenen Schutz vorläufig besser zu Hause zu bleiben. Die Taliban gaben damit zu, dass Frauen in der Gegenwart von Soldaten der Gotteskrieger nicht sicher sind. «Wir wollen sicherstellen, dass sich Frauen keine Sorgen machen müssen», so Mudschahid. «Deshalb bitten wir sie, noch nicht zur Arbeit zu gehen, bis sich die Lage normalisiert hat und frauenspezifische Fragen geklärt sind. Danach können sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.»

Taliban: «Brauchen Fachwissen, wenn die verrückten Ausländer weg sind»

Die Sicherheitslage im Land hat sich inzwischen weitgehend beruhigt – ausser auf dem Weg zum und um den Flughafen von Kabul. Die Amerikaner fliegen letzte Evakuierungsflüge, bevor die US-Streitkräfte vor dem 31. August auch ihre letzten Marines abziehen wollen. Rund 500 US-Bürger versuchen noch an den Flughafen zu gelangen, laut US-Aussenministerium ziehen es etwa 1000 Amerikaner vor, im Land zu bleiben. Dies, während Taliban in der Nacht auf Donnerstag laut Berichten alle Zufahrtsstrassen zum Flughafen abriegelten. Nur noch Ausländer und Afghanen in Begleitung von einem Ausländer kommen durch.

Tore meiden: US-Botschaft warnt vor Gefahr am Flughafen von Kabul

Die US-Botschaft in Kabul hat US-Bürgern aus Sicherheitsgründen davon abgeraten, zum Flughafen der afghanischen Hauptstadt zu kommen. Es gebe eine Gefahrenlage an den Toren des Flughafens, warnte die Botschaft in der Nacht zu Donnerstag. «US-Bürger, die sich derzeit am Abbey Gate, East Gate oder North Gate aufhalten, sollten das Gebiet sofort verlassen», hiess es weiter. Ausnahmen sollten nur im Falle individueller Anweisungen von Vertretern der US-Regierung gemacht werden. Zuvor hatte die deutsche Botschaft vor Schiessereien und Terroranschlägen am Flughafen von Kabul gewarnt.

Die US-Botschaft in Kabul hat US-Bürgern aus Sicherheitsgründen davon abgeraten, zum Flughafen der afghanischen Hauptstadt zu kommen. Es gebe eine Gefahrenlage an den Toren des Flughafens, warnte die Botschaft in der Nacht zu Donnerstag. «US-Bürger, die sich derzeit am Abbey Gate, East Gate oder North Gate aufhalten, sollten das Gebiet sofort verlassen», hiess es weiter. Ausnahmen sollten nur im Falle individueller Anweisungen von Vertretern der US-Regierung gemacht werden. Zuvor hatte die deutsche Botschaft vor Schiessereien und Terroranschlägen am Flughafen von Kabul gewarnt.

Wie lange Afghanistan von der Aussenwelt abgeschottet bleibt, ist unklar. Dabei scheinen die Taliban bemüht, die Regierungsgeschäfte und auch Wirtschaft so schnell wie möglich wieder anzuwerfen. «Habt keine Panik und geht wieder an die Arbeit» – von einem solchen Anruf der Taliban berichtet Ashraf Haidari (47), ein Ökonom im Wirtschaftsministerium. Ein Taliban-Kommandant habe ihn angerufen und gesagt: «Gerät nicht in Panik und versucht nicht, euch zu verstecken. Die Behörden brauchen euer Fachwissen, um unser Land zu regieren, wenn die verrückten Ausländer weg sind», so Haidari zur Nachrichtenagentur Reuters.

Nicht die Sicherheitslage beschäftigt die meisten Afghanen derzeit. Die Waffen schweigen, wie aus dem neuesten wöchentlichen Bericht der Uno-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (Ocha) hervorgeht. Das grösste Problem sind derzeit nicht die Taliban, sondern geschlossene Banken, kein Geld, mangelnde Benzin – und Hunger.

Afghanistan droht Hungerkatastrophe

In Afghanistan droht eine Hungerkatastrophe. Auch der Niederländer Thomas ten Boer, Afghanistan-Direktor der Welthungerhilfe, ist von den Taliban aufgefordert worden, die humanitäre Hilfe im Land wieder aufzunehmen. Ten Boer war gerade im Heimaturlaub, als die Lage in Afghanistan eskalierte. Sobald es wieder Flüge nach Kabul gebe, wolle er zurück. Kommende Woche sollen alle Büros der Welthungerhilfe im Land wieder offen sein, sagte ten Boer dem «Spiegel».

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Die Taliban hätten zwölf humanitäre Organisationen «in Gesprächen mit Dorfältesten dazu aufgefordert, unsere humanitäre Arbeit landesweit wieder aufzunehmen. Das ist nicht das Problem», so ten Boer. «Was mich eher umtreibt, ist, ob wir ausreichend Benzin haben, um unsere Hilfsgüter zu verteilen.» Und weil Banken geschlossen bleiben, können auch keine Lieferanten bezahlt und kein Geld abgehoben werden.

Bald kommt der Winter

Jeder dritte Mensch in Afghanistan sei akut von Hunger bedroht. Die Taliban übernehmen ein Land am Abgrund: «Seit Monaten leben Flüchtlinge rund um die Hauptstadt in desaströsen Verhältnissen, zwischen Müllhalden und ohne medizinische Versorgung, stabile Unterkünfte und Schulbildung für die Kinder.» Mit dem Machtwechsel habe sich die Situation weiter verschärft: Beamte hätten seit Juni, spätestens seit Juli kein Gehalt mehr bekommen: «Zudem sind die Preise extrem gestiegen. Vor allem im Norden können sich viele Menschen schlicht keine Lebensmittel mehr leisten.»

In zwei, drei Monaten kehrt der Winter ein. Der ist in Afghanistan bitterkalt. Ten Boer: «Bei minus 20 Grad können die Menschen nicht in Zelten oder notdürftigen Behausungen überleben. Das betrifft Hunderttausende.»

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