Botschafterin zur Justizreform
«In Israel steht niemand über dem Gesetz»

Ifat Reshef, Israels Botschafterin in der Schweiz, erzählt im Blick-Interview, warum die Demokratie in ihrer Heimat überleben wird und warnt Israels Feinde in scharfem Ton. Und sie erklärt, warum Israel – genau wie die Schweiz – der Ukraine keine Waffen liefert.
Publiziert: 27.07.2023 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 27.07.2023 um 10:52 Uhr
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Ifat Reshef (54) ist seit bald zwei Jahren Israels Botschafterin in der Schweiz.
Foto: Thomas Meier
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Israels Parlament hat am Montag den ersten Schritt einer Justizreform verabschiedet: Die obersten Richter können Entscheidungen des Parlaments nicht mehr als «unangemessen» zurückweisen. Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (73) kann schalten und walten, wie sie will. Hunderttausende gehen gegen die Reform auf die Strasse. Teile des Militärs und der Ärzteschaft verweigern den Dienst. Hochrangige Politiker warnen vor einem Bürgerkrieg.

Auch Ifat Reshef (54), die israelische Botschafterin in der Schweiz, hat alle Hände voll zu tun. Blick trifft sie am Dienstag in Bern. Es regnet in Strömen. Botschafterin Reshef – überzeugte Vegetarierin und begeisterte Aare-Schwimmerin – stört das nicht. Die Sommerhitze mag sie nicht. Hitzige Debatten hingegen schon.

BLICK: Frau Botschafterin, seit Montag kann die Regierung in Israel machen, was sie will. Wie wird Israels Demokratie das überleben?
Ifat Reshef:
Was wir in Israel sehen, ist ein Beweis dafür, wie stark und lebendig die israelische Demokratie ist. Die Emotionen kochen hoch. Beide Seiten gehen auf die Strasse. Jeder in meinem Land kann seine Meinung zu den anstehenden Fragen frei äussern.

Die Gegner sagen, Premierminister Benjamin Netanjahu wolle sich mit der Reform vor dem Gefängnis retten. Gegen ihn laufen derzeit drei Prozesse wegen Korruption.
Zu internen rechtlichen Fragen kann ich mich nicht äussern. Aber in Israel steht niemand über dem Gesetz. Was wir erleben, geht weit über eine individuelle Angelegenheit hinaus.

Wer kann die israelische Regierung denn jetzt noch daran hindern, einfach zu tun, was ihr gerade passt?
Die Menschen schreiben die israelische Demokratie viel zu schnell ab. Wir haben eine stabile Demokratie. Das, was passiert ist, bezieht sich auf eine der rechtlichen Konstruktionen zur Überprüfung von Gesetzen. Es gibt auch andere Kontrollmechanismen.

Die orthodoxen Parteien in der Regierung könnten versuchen, die Frauenrechte einzuschränken oder Verkaufsverbote am Sabbat durchboxen.
Es gibt keine einzelne Gruppe in Israel, die die Kontrolle über die Gesellschaft an sich reissen wird. Das wäre antiisraelisch. Dass die Demokratie in Israel unter den extremen Bedingungen in unserem Weltteil 75 Jahre lang überlebt hat, liegt zu einem grossen Teil daran, dass wir immer heftige Debatten führten, aber am Ende in der Lage waren, Kompromisse zu finden.

Mehr als 10’000 Armee-Reservisten und Hunderte Militärpiloten streiken aus Protest gegen die Reform. Ist Israel in Gefahr?
Unsere Feinde sollten keinesfalls den Fehler machen zu denken, Israel sei schwach oder gar im Zerfall befindlich. Hassan Nasrallah (62), der Führer der Hisbollah, vergleicht die israelische Gesellschaft immer wieder mit einem Spinnennetz. Wenn man es an einer Stelle anreisse, falle es gleich komplett zusammen. Wir Israelis werfen uns vielleicht gegenseitig vor, die Demokratie zu sabotieren und streiten laut auf der Strasse. Aber glauben Sie mir: Wenn es hart auf hart kommt, sind wir Brüder und Schwestern. Wir verteidigen und kämpfen füreinander. Das sollten die Hisbollah und Konsorten nie vergessen!

Anfang Juli ist die israelische Armee in die palästinensische Stadt Dschenin einmarschiert: die grösste Militäraktion im Westjordanland seit Jahren. Zwölf Menschen starben. War das wirklich notwendig?
Dschenin und Teile von Nablus sind zu einer Brutstätte des Terrorismus geworden. In der Stadt sind verschiedene Gruppen wie die Hamas, der Islamische Dschihad oder der IS präsent. Sie erhalten Geld vom Iran, um uns zu terrorisieren. Seit Beginn dieses Jahres sind in Israel 29 Menschen gestorben und mehr als 270 verletzt worden. Unsere zweitägige Operation richtete sich gegen diese terroristische Infrastruktur.

Die Palästinenser beklagen, dass beim israelischen Einsatz auch zivile Gebäude wie etwa das Kulturzentrum «Freedom Theatre» zu Schaden gekommen sei.
Wir haben modernste Technologien eingesetzt, um sicherzustellen, dass wir nur die Terroristen ins Visier nehmen. Kollateralschäden sind in einem so extrem dicht besiedelten Gebiet wie dem Flüchtlingslager von Dschenin, wo sich die Terroristen hinter ziviler Infrastruktur verstecken, leider kaum zu vermeiden.

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Die Palästinensische Autonomiebehörde, die die Palästinensergebiete verwaltet, hat aus Protest über den Angriff die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel beendet. Wie gefährlich ist die Funkstille zwischen den beiden Seiten?
Die Palästinensische Autonomiebehörde sollte ihren vertraglich vereinbarten Teil zur Terrorbekämpfung tun. Das ist auch im Interesse der Palästinenser. In Dschenin aber lässt sie radikalen Gruppen freie Hand. Gleichzeitig lässt sie Schulbücher drucken, die Terroristen als Helden feiern und unterstützt Hinterbliebene von Kämpfern mit Geld. Sie schafft Anreize für Terrorismus, statt ihn zu bekämpfen.

Die Palästinenser sagen, Gewalt sei der einzige Weg, um sich gegen die seit Jahrzehnten andauernde Unterdrückung zu wehren.
Wir tun viel, um jungen Palästinensern Hoffnung zu geben und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern. Aber wenn man täglich mit einer Welle von Terroranschlägen konfrontiert ist, motiviert das nicht gerade, den Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiterzugehen. Unsere Leute fordern, dass die Regierung mehr für die Sicherheit tut.

Israel sagt: Stoppt den Terror, dann können wir reden. Palästina sagt: Stoppt die Besatzung, dann stoppen wir den Terror. Dauert dieses Dilemma noch ewig?
Wir haben derzeit auf beiden Seiten ein grosses Misstrauensproblem. Dabei können wir Erstaunliches leisten, wenn wir zusammenarbeiten. Fahren Sie nur mal in die Palästinenser-Stadt Ramallah und schauen Sie, was für Wirtschaftsprojekte dort entstanden sind.

Die illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland sind ein enormer Störfaktor in der Beziehung der beiden Seiten. Die neue Regierung hat den Siedlungsbau jetzt sogar noch intensiviert. Warum hört Israel nicht auf damit?
Die Thematik der Siedlungen ist umstritten und Teil der Fragen, die in künftigen Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern gelöst werden müssen. Israelische und palästinensische Gemeinschaften leben und wachsen nebeneinander. Diesem Wachstum müssen wir gerecht werden.

Die hochgerüstete Militärmacht Israel verweigert Waffenlieferungen an die Ukraine – genau wie die Schweiz. Warum?
Israel hat eine sehr klare Position zur Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression eingenommen. Wir stehen voll und ganz hinter der Ukraine und haben in internationalen Gremien immer wieder zugunsten der Ukraine gestimmt. Russland ist jedoch für unsere nationale Sicherheit ein wichtiges Land, auch wegen seiner militärischen Präsenz in unserem Nachbarland Syrien. Wir wollen unsere Kanäle zu Moskau offen halten.

Auch die Schweiz hält bislang an ihrer Neutralität fest, sogar gegenüber dem Iran. Bern hat die EU-Sanktionen gegen das Mullah-Regime nicht übernommen. Haben Sie Verständnis dafür?
Der Iran strebt nach wie vor nach nuklearen militärischen Fähigkeiten und spricht davon, Israel auslöschen zu wollen. Zudem unterdrückt das Regime die Iraner – ein wunderbares, fähiges und talentiertes Volk –, vor allem die Frauen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass dieses Regime nur vor starkem Druck einknickt. Deshalb muss die internationale Gemeinschaft umfassende Sanktionen verhängen. Sonst müssen am Ende drastischere Massnahmen ergriffen werden. Und das will keiner von uns.

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