Seit einem Monat rumort es im Iran. Heftige Proteste erschüttern das Land. Während es im Inland brennt, springt die Regierung Russland im Ukraine-Krieg zur Seite. Das Regime soll Waffen an Putins Armee geliefert haben. Darunter auch die berüchtigten Kamikaze-Drohnen Shahed, mit denen die Russen seit kurzem die ukrainischen Städte attackieren.
Was bedeutet das für das Land und die Regierung? Blick klärt die wichtigsten Fragen.
Wieso rebelliert das Volk im Iran?
Auslöser für die Proteste ist der Tod von Mahsa Amini (†22). Die Iranerin war wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs von der Moralpolizei festgenommen worden. Kurz darauf lag sie im Spital auf der Intensivstation. In einem offiziellen Bericht sprechen die Behörden von einer Vorerkrankung, deshalb soll sie in einer Polizeistation zusammengebrochen und ins Koma gefallen sein. Doch an der staatlichen Version gibt es erhebliche Zweifel. Der furchtbare Verdacht: Tod nach Polizeigewalt.
Nur einen Tag nach ihrem Tod wurde Mahsa Amini in ihrer Heimatstadt in der iranischen Provinz Kurdistan beerdigt, offensichtlich ohne Autopsie. Seither gehen tagtäglich Tausende im Iran auf die Strasse. Frauen verbrennen öffentlich ihre Kopftücher oder schneiden sich die Haare ab, um gegen das Regime zu protestieren.
Warum müssen Frauen im Iran einen Schleier tragen?
Seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 gelten im Iran strenge Kleidungsvorschriften. Insbesondere in den Metropolen sehen viele Frauen die Regeln inzwischen aber eher locker und tragen beispielsweise ihr Kopftuch nur auf dem Hinterkopf – zum Ärger erzkonservativer Politiker. Religiöse Hardliner im Parlament versuchen seit Monaten, die islamischen Gesetze strenger anwenden zu lassen. Denn: Eine Abkehr vom Schleier steht für eine Anpassung an den Westen und dessen Werte. Umgekehrt sehen die protestierenden Frauen das Kopftuch als Symbol ihrer Unterdrückung und reissen es herunter.
Wie verlaufen die Proteste einen Monat nach Beginn?
Seit Ausbruch der Proteste Mitte September weiten sich die Demonstrationen immer mehr aus. Zunächst protestierten fast ausschliesslich Frauen. Mittlerweile nehmen Angehörige aller Schichten teil. Zu Beginn drehten sich die Proteste mehrheitlich um Frauenrechte und die Abschaffung der brutalen iranischen Sittenpolizei. In den vergangenen Wochen haben sich die Anliegen ausgedehnt: Mittlerweile geht es um den Sturz der gesamten Regierung rund um Staatsoberhaupt Ebrahim Raisi (61) und die Etablierung eines neuen, demokratischen Systems.
Was hat die Kletterin Elnaz Rekabi damit zu tun?
Inzwischen haben sich auch immer mehr Prominente eingeschaltet, die sich mit den Demonstranten solidarisieren. Zuletzt öffentlich bekannt wurde etwa die iranische Kletterin Elnaz Rekabi (33). Sie verzichtete beim Finale der Asienmeisterschaften auf das vorgeschriebene Kopftuch – und verschwand danach. Auf ihrem Instagram-Account veröffentlichte sie eine Entschuldigung, die aber laut Beobachtern erzwungen sein dürfte. Mittlerweile ist sie wieder in Teheran angekommen. Ob sie nun verhaftet wird, ist unklar. Die Regierung in Teheran bestreitet ein solches Vorhaben.
Was tut das iranische Regime angesichts der Proteste?
Die Regierung in Teheran reagiert – aber nicht etwa in Form politischer Konsequenzen, sondern mit roher Gewalt. Die Sicherheitskräfte schlagen mit Gummiknüppeln zu und schiessen sogar in Menschenmengen. Über 200 Menschen wurden laut der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) bei den Protesten bislang getötet, darunter auch Kinder und Jugendliche.
Unter ihnen: Sarina E.* (†16) und Nika S.* (†17). Die 16-Jährige war mit Schlagstöcken so schwer verletzt worden, dass sie starb. Zehn Tage lang soll ihre Familie nach Sarina E. gesucht haben, bis die Behörden schliesslich ihre Leiche freigaben, wie Amnesty International mitteilt. Auch Nika S. sei mehrere Tage verschwunden gewesen. Sie soll am 20. September das Haus verlassen haben, erzählt ihre Tante dem Sender BBC Farsi. Im Gepäck: Eine Wasserflasche und ein Handtuch, um sich vor dem Tränengas der Polizei zu schützen.
Welche Rolle spielt das Internet?
Laut dem Iran-Experten Hamid Hosravi vom Asien-Orient-Institut der Universität Zürich spielt das Internet im Iran eine wichtige Rolle. Rund 60 Prozent aller Iranerinnen und Iraner sind unter 25. «Sie haben über soziale Medien Zugriff auf eine moderne, freiheitliche Welt, stehen im Austausch mit jungen Menschen in anderen Ländern und fühlen sich durch die iranische Regierung überhaupt nicht vertreten», sagte Hosravi Anfang Oktober zu Blick.
Zudem konnten gerade zu Beginn der Proteste die Bilder der Polizeigewalt durch die sozialen Medien sehr schnell verbreitet werden. Das weiss auch die iranische Regierung. Sie lässt deshalb das Internet in weiten Teilen des Landes immer wieder abschalten, um zu verhindern, dass Informationen und Bilder der Demonstrationen in die Welt gelangen können. Dennoch gelingt es immer wieder, Bilder und Videos zu posten und damit zu zeigen, dass der Aufstand weitergeht.
Wie wahrscheinlich ist ein Umsturz?
Laut dem Experten Hosravi ist ein Umsturz derzeit eher unwahrscheinlich. «Aufgrund der Machtverhältnisse ist ein Sturz des Regimes nicht möglich, denn dieses hat noch Mittel für Repressalien.» Ausserdem hätten Europa und die USA wegen der weltpolitischen Lage «kein ernst zu nehmendes Interesse», die Protestbewegung aktiv zu unterstützen. «Und wegen des bevorstehenden Atomdeals wird der Iran vermutlich die eingefrorenen Gelder zurückbekommen, die dann direkt in die Unterdrückungsmaschinerie fliessen.»
Warum liefert der Iran den Russen Waffen für den Ukraine-Krieg?
Russland und der Iran stehen sich nicht besonders nah. «Es geht um Macht- und Geopolitik. Von ‹Freunden› sollte man also eigentlich nicht reden», sagte Maurus Reinkowski, Türkei-Experte und Professor für Islamwissenschaft an der Universität Basel, im Juli zu Blick.
Im Moment verbindet die beiden Länder vor allem der gemeinsame Hass gegen den Westen, der sich auch im Ukraine-Krieg widerspiegelt. Weitere Waffenlieferungen sollen deshalb folgen, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.
Dass die beiden Länder sich in Zukunft noch näher stehen und auf der grossen politischen Bühne gemeinsame Sache machen werden, bezweifelt Experte Reinkowski aber. Stattdessen wolle jedes Staatsoberhaupt einen bestimmten Nutzen aus der «jederzeit aufkündbaren Zusammenarbeit» ziehen.
* Namen bekannt