Auf einen Blick
Grenz-Glitzer. So nennt Samuel Hall (44) den feinen Staub, der im Kegel seiner Taschenlampe tanzt. Es ist kurz nach Mitternacht. Im Schritttempo fährt Hall seinen Geländewagen auf einem holprigen Feldweg entlang der mexikanisch-texanischen Grenze und zündet in die Dunkelheit hinaus. Gleich nebenan fliesst der Rio Grande still durch die Nacht. Dahinter: Mexiko. «Kartell-Gebiet», sagt Hall. «Siehst du die Hütten da? Da verstecken sie die Kinder und die Drogen, die sie nach Amerika schmuggeln wollen.»
Hall will die Kartelle stoppen, will die Kinder retten, sein Land schützen. «Wenn es das Regime in Washington nicht tut, dann tun wirs eben selber», sagt er, die rechte Hand abwechslungsweise am Steuer und am Kolben seines Sturmgewehrs. Der Texaner ist der Chef der Patriots for America, einer christlichen Miliz, die seit drei Jahren auf eigene Faust schwer bewaffnet an der amerikanischen Südgrenze patrouilliert. Nach wochenlangem Hin und Her hat die Miliz grünes Licht gegeben und Blick zwei Tage auf ihre gefährliche Mission mitgenommen.
«Aussteigen, Fuss-Patrouille!», ruft Hall und hält den Wagen an. Es springen raus: Shawn Tredway (52), Elektriker, Familienvater, langer Bart, die Nummer zwei in Halls Miliz. Daniel Ludovici (44), Bau-Unternehmer, Bodybuilder, auf seiner ersten Rotation mit den Patriots. Ron Haugen (56), Irak-Veteran, Sicherheitsarbeiter, leichte Rückenschmerzen heute Nacht. Sie haben Schnellfeuerwaffen umgehängt: AR-15s, Gewehre auf AK47-Basis, dazu Pistolen. Die Männer haben sich extra freigenommen, um für ein paar Tage an der Grenze Wache zu schieben.
Gottes Werk mit Sturmgewehr
Sie vereint der Glaube daran, dass das Land sie braucht, um das Schlimmste abzuwenden. Und der Glaube an Jesus Christus. Auf dem Weg zum Einsatzgebiet an der Grenze sprechen sie über Bibelsprüche. Jeremia 51, zum Beispiel. Die Massen fallen über Babylon herein wie Heuschrecken, das Land wird zur Wüste. Jeremia 51, eine Warnung an Amerika. Für die vier Milizionäre keine Frage: Mit ihren Sturmgewehren tun sie Gottes Werk.
2015 hat der frühere Missionar und Ex-Autoverkäufer Samuel Hall die Miliz gegründet. Der Heilige Geist habe ihm damals ein Zeichen geschickt, erzählt Hall. Und als die Behörden im texanischen Kinney County wegen der damals rasch steigenden Zahl illegaler Migranten Alarm schlugen und um Hilfe baten, war er zur Stelle.
Geschätzt 300 private Milizen gibt es in den USA. Illegal sind sie nicht. Umstritten schon. Hall ist das egal. «Unser Grenzschutz ist überfordert. Sie sind dankbar um unsere Hilfe.» Hall zieht sich eine schusssichere Weste über, checkt noch einmal die Walkie-Talkies, wiederholt die Codenamen: Tredway ist «Cap», Haugen «58», Milizen-Neuling Ludovici «36». Gewehre schultern und ab in die Nacht.
Die Männer suchen das Gestrüpp am Flussrand nach auffälligen Öffnungen ab. Ein paar Hunde bellen, Tausende Sterne funkeln vom Himmel. «Da», ruft Hall, und stürmt durch eine Lücke in die Büsche. Es knackt, ein paar Kleider am Boden, «von Migranten zurückgelassen», sagt Hall, leuchtet um sich, Waffe im Anschlag. Keine Kinder, kein Kartell, Fehlalarm.
Wo sind die beiden Flüchtigen?
Weiter vorne an der Strasse trifft Halls Trupp auf Grenzwächter Chris. Man grüsst sich freundlich. «Fünf Migranten haben wir vorhin erwischt, zwei sind wieder abgehauen, die müssen noch irgendwo sein», sagt Chris. Die Aufregung steigt, Hall dankt für den Hinweis. Das Verhältnis zu den Behörden sei sehr gut. «Ausser zu diesem einen Offizier Glenn, der uns Anfang Woche verhaften wollte, weil wir angeblich Privatland betreten hätten – um 90 Zentimeter!», ereifert sich Hall.
«Ihr dürft hier sein, eure Waffen tragen, aber uns nicht bei der Arbeit behindern», sagt Officer Glenn auf einer Audioaufnahme der Auseinandersetzung. «Der Typ hat die Verfassung nicht gelesen. Da steht glasklar drin, dass wir patrouillieren dürfen», schimpft Hall und kneift die blauen Augen zusammen. Er hat einen Anwalt eingeschaltet. Leute wie Officer Glenn, die seinen göttlichen Auftrag infrage stellen, passen ihm gar nicht. «Corrupto», sagt Hall. Seine Männer schütteln die Köpfe. «Am schlimmsten ist die Regierung in Washington», sagt der Chef. «Biden hat den Zugang zur Grenze an vielen Hotspots gesperrt. Die Regierung will nicht, dass wir mitbekommen, was wirklich passiert.»
Offiziell passiert hier derzeit so wenig wie lange nicht mehr. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte nach Amerika ist seit Anfang Jahr massiv gesunken. An politischer Brisanz hat das Thema aber nicht verloren. Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl macht Donald Trump (78) Stimmung mit der angeblichen Invasion an der Südgrenze. Die Gewerkschaft der Grenzschützer hat ihm eben offiziell ihre Unterstützung zugesagt. «Wenn Grenz-Zarin Kamala Harris diese Wahlen gewinnt, fahren wir zur Hölle», sagte Gewerkschaftschef Paul Perez.
Samuel Hall ist derweil zurück im schmucken Airbnb am Rande von Brackettville, Texas, das die Patriots for America während ihrer Einsätze mieten. Mal sind sie zu viert, mal sind sie fast zwanzig, immer sind sie in tiefer Sorge. «Basecamp», nennt Hall das Haus. Auf der Kommode stehen Ladestationen für die Funkgeräte, in der Küche ein Topf mit Reis und Huhn, über den riesigen Fernseher flimmert Fox-News. Es ist drei Uhr morgens, man trinkt mexikanisches Bier, die Klimaanlage summt gegen die tropischen Temperaturen an. Hall glaubt, dass seine Miliz bald wieder alle Hände voll zu tun haben wird. «Die Migranten wissen, dass Trump die Grenze abriegeln wird. Jeder wird versuchen, davor noch reinzukommen.»
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Nicht so wie heute Nacht. Sechs Stunden waren sie im Einsatz. Ausser Grenzwächter Chris haben sie keinen Menschen angetroffen. Noch Anfang Jahr habe das ganz anders ausgesehen, erzählt Hall. Hunderte Migranten habe man gestoppt, vergewaltigte Kinder aus dem Fluss gerettet, Babies in Windeln entgegengenommen, einmal gar dem berüchtigten Jalisco Nueva Generación-Kartell ein Gummiboot entwendet. Halls Nummer zwei Shawn Tredway zeigt Fotos und Videos der Einsätze. Festnehmen dürfen die Milizionäre laut Gesetz niemanden. «Wir stellen nur Fragen: Wollt ihr hier rüberkommen? Wollt ihr uns eure Rucksäcke geben? Dann rufen wir den Grenzschutz», erklärt der bärtige Elektriker.
Kritiker werfen der Miliz vor, sie gehe wenig zimperlich mit Migranten um und bilde ihre Mitglieder ungenügend aus. «Schwachsinn», sagt Hall. Die allerwenigsten Kandidaten würden es durch das strenge Auswahlverfahren schaffen. Ihre Rotationen seien primär humanitäre Aktionen. «Wir geben den Migranten Wasser und beten mit ihnen. Und wir hindern mit unserer Präsenz vielleicht ein paar bad guys daran, überhaupt erst über den Fluss zu kommen.»
Polizei-Anruf wegen verdächtiger Milizionäre
Die Miliz hat viele Bewunderer. Finanzielle Unterstützung kommt von konservativen Gruppierungen und Einzelspendern. Hall ist in rechten Kreisen ein gefragter Mann, gibt Interviews auf Fox News, tritt als Sprecher auf nationalen Konferenzen auf. «Ich sage den Menschen: Es liegt an euch, ihr könnt etwas tun, ihr könnt das Land retten!»
Zweite Nacht, zweite «Black Op», diesmal in Eagle Pass, einer Kleinstadt an der Grenze, die Anfang Jahr von mehreren Tausend Migranten überrannt und seither hermetisch abgeriegelt worden ist. Halls Männer spazieren mit ihren Nachtsichtgeräten durch ein Quartier direkt an der Grenze. Migranten? Weit und breit keine in Sicht. Nur Halloween-Figuren, die aus den nächtlichen Gärten leuchten. Ein Anwohner informiert die Polizei über die verdächtigen Waffenträger, die auf der Quartierstrasse rumstehen. Kurzer Schwatz mit der anrückenden Polizeipatrouille. Dann macht sich Halls Miliz aus dem Staub.
Wieder nichts. Zwei Nächte, null Migranten, Flaute an der Front, nichts als Grenz-Glitzer da draussen. «Früher war das hier ein Riesenspass. Ich bin ehrlich, ich vermisse die Action», sagt Hall auf dem Weg zurück ins AirBnB-Basecamp. «Wenn Kamala gewinnt, kommen sie in Scharen. Wenn Trump gewinnt, auch, weil dann jeder noch auf den letzten Drücker rein will.» Das macht Hoffnung, irgendwie. Vielleicht kommt sie tatsächlich noch, die Invasion, vor der die Patriots for America ihre Heimat schützen wollen.