Von aussen wirkt das Hauptquartier der Kosovo Force (Kfor) in Pristina wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Wer die Stacheldraht-Barrieren überwinden will, muss an zwei Wachtposten und einer Sicherheitskontrolle vorbei. Erst dann zeigt sich der wahre Charakter der grössten Basis der Nato-Einsatztruppen im jüngsten Balkanstaat: «Camp Film City» ist eine Stadt innerhalb der kosovarischen Hauptstadt: Cafés, Coiffeurläden und Elektronikshops vermitteln das Flair einer ganz normalen Alltagsstrasse. Wären da nicht all die Männer und Frauen in Militäruniform …
Begrüsst werden wir auf Schweizerdeutsch. Presse- und Informationsoffizierin Xhetare Rexhaj (31) vom 48. Swisscoy-Kontingent stammt aus Schaffhausen. Sie begleitet SonntagsBlick zum Quartier der Schweizer Einsatzgruppen. Die Stimmung ist gelöst, auf der Terrasse des berühmten Swiss House trinken Armeeangehörige ihren Morgenkaffee. «Ein wichtiger Rückzugsort, um kurz zu verschnaufen», sagt Rexhaj.
Umstrittene Statistik
Eine Verschnaufpause haben die Swisscoy-Truppen in der momentanen Lage wirklich nötig. Die Stimmung ist so angespannt wie nie zuvor seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vor 15 Jahren. Im Norden des Landes ist es seit April mit dem friedlichen Zusammenleben der beiden Volksgruppen vorbei. Serbische Wählerinnen und Politiker boykottierten die Wahlen in vier mehrheitlich von Serben bewohnten Orten. Die albanisch-stämmigen Kandidaten wurden trotz einer Stimmbeteiligung von lediglich 3,5 Prozent eingesetzt.
Die kosovarische Polizei sicherte die Amtseinführung der neuen Bürgermeister mit Gewalt – und die Situation eskalierte: Am 29. Mai wurden laut Medienberichten 31 Kfor-Soldaten aus Ungarn und Italien verletzt. Auch unter serbischen Demonstranten und Mitgliedern der kosovarischen Polizei gab es Verwundete. Die Swisscoy-Soldaten blieben unverletzt. Sie ziehen sich bei Ausschreitungen jeweils zurück und überlassen das Feld den Kontingenten anderer Nationen.
Am 29. Mai protestierten militante Serben im Norden des Landes gegen die Einsetzung neuer Bürgermeister. Als Kfor-Soldaten, die das Gemeindeamt in Zvecan sicherten, den gewalttätig gewordenen Protest auflösen wollten, wurden 31 Soldaten verletzt.
Am 29. Mai protestierten militante Serben im Norden des Landes gegen die Einsetzung neuer Bürgermeister. Als Kfor-Soldaten, die das Gemeindeamt in Zvecan sicherten, den gewalttätig gewordenen Protest auflösen wollten, wurden 31 Soldaten verletzt.
Ein Kfor-Soldat, den SonntagsBlick am Flughafen trifft, spricht indes von mehr als 90 verletzten Militärs. Viele seien verärgert über Politiker, denen sie die Schuld an der Eskalation geben – sie hätten die Sicherheitskräfte einer vermeidbaren Gefahr ausgesetzt. Unabhängig vom Kfor-Mann nennt ein Uno-Mitarbeiter später dieselben Zahlen.
Schweizer helfen bei Eskalation aus
Einige der Schweizerinnen und Schweizer, die für die Swisscoy im Einsatz stehen, erlebten das Nachspiel der Ausschreitungen hautnah mit. Rexhaj führt SonntagsBlick ins Medical Center, das sich die Schweiz mit Österreich teilt. Geleitet wird es von Steffi Beeler (38) aus dem Kanton Schwyz. Sie erinnert sich an den Tag, an dem einige der Kfor-Soldaten aus der nördlichen Kleinstadt Zvecan für die medizinische Notversorgung ins Hauptquartier geflogen wurden. Das Schweizer Kontingent brachte die Verletzten aus den Helikoptern ins Kfor-Notfallzentrum und half bei der Behandlung mit.
Swisscoy bekam für diese Unterstützung viel Lob von vielen Seiten. Doch Beeler sagt auch: «Die verletzten Kameraden zu behandeln, ging vielen von uns nahe. Es war der Horror.» Mehrere Einzel- und Gruppengespräche später ist das Erlebte bei den Beteiligten weitgehend verarbeitet. Beeler: «Jetzt sind wir uns erst recht bewusst, was es heisst, in einem Spannungsgebiet im Einsatz zu sein.»
«Leute wollen Normalität»
Als Soldat im Camp Film City kann man den Draht zur Aussenwelt schnell mal verlieren: Sich in der Freizeit einfach unters Volk zu mischen, ist für die Kfor-Soldaten ein No-Go.
Unter den wenigen, die das Kfor-Hauptquartier beinahe täglich verlassen, ist Christoph Lisibach (25) aus Winterthur ZH. Er steht für das Liaison- und Monitoring-Team im Einsatz, geht auf Patrouille in den umliegenden Dörfern rund um Pristina und trifft viele Menschen – von der Chefin einer grossen Firma bis zum einfachen Bauern.
Lisibach hat über seine Erfahrungen mit den Einheimischen nur Gutes zu berichten: «Fast alle, die wir antreffen, sind froh um unsere Präsenz. Die Serben zeigen uns vielleicht eher mal die kalte Schulter.» Vom Konflikt im Norden spüren er und sein Team wenig: «Es geht friedlich zu und her. Die Leute hier wollen vor allem Normalität.»
Wird bald aufgestockt?
Von Normalität jedoch ist der Kosovo zumindest momentan weit entfernt. Premier Albin Kurti (48) und Serbiens Präsident Aleksandar Vucic (53) reisten letzte Woche zwar für Gespräche mit der EU nach Brüssel. Einem direkten Aufeinandertreffen verweigerten sich die beiden Staatschefs aber. Eine Deeskalation scheint zurzeit unwahrscheinlich.
Ein baldiges Ende der internationalen Präsenz im Kosovo ist genauso wenig in Sicht. Das sieht auch Raoul Barca (41), Oberst im Generalstab, so, als er als Kontingentskommandant SonntagsBlick in seinem Büro empfängt. An der Wand hängt ein Porträt von Verteidigungsministerin Viola Amherd (61). Den Beweis für den Wert des Swisscoy-Einsatzes sieht Barca in der Entscheidung des Schweizer Parlaments, das den Kfor-Einsatz der Schweizer Armee vor knapp zwei Wochen bis 2026 verlängerte: «Das zeigt, dass unsere Arbeit im Kosovo geschätzt wird.»
Momentan sind 195 Armeeangehörige für die Swisscoy im Einsatz. Doch das Parlament stimmte zu, den Bestand bei Bedarf um 30 Armeeangehörige zu erhöhen. Barcas trockener Kommentar: «Aufgrund der aktuellen Lage hätten wir sinnvolle Aufgaben für 30 zusätzliche Leute.»