Abgerechnet wird am Schluss. Das war das Narrativ, mit dem sich der Bundesrat durch die Pandemie schleppte. In der zweiten Welle etwa die Restaurants und Bars offen hielt, als in den Nachbarländern längst alles dicht war. Freudig Skitouristen aus Deutschland und Österreich empfing, in deren Heimatländern die Pisten geschlossen waren. Und Kinder die Schulbank drücken liess, während ihre Altersgenossen weltweit am Küchentisch büffelten.
Jetzt zeigt sich: Die Rechnung geht auf. Berücksichtigt man statt Fall- und Todeszahlen die Übersterblichkeit, die Einschränkung von Freiheitsrechten und die Auswirkung von Massnahmen auf die Wirtschaft, schneidet die Schweiz zwei Jahre nach dem ersten Covid-19-Fall hervorragend ab. Das zeigt eine neue Datenanalyse.
Höhere Übersterblichkeit, aber weniger Wirtschaftsschäden
In der exklusiven Auswertung von Stefan Legge (35), Makroökonom und Dozent an der Uni St. Gallen, liegt die Schweiz nach Norwegen weltweit auf Platz zwei der Länder, die gesamthaft am besten durch die Pandemie gekommen sind.
«Die Schweiz hat sich im Vergleich zu anderen Ländern gut entwickelt», sagt Legge mit Blick auf die hierzulande teilweise dramatischen Corona-Wellen. «Die Schweiz hat zwar insgesamt eine etwas höhere Übersterblichkeit. Aber der Unterschied ist im Vergleich zu Ländern mit viel schärferen Massnahmen gar nicht so gross.»
Einzelne Daten wie etwa die Übersterblichkeit oder die Inflation würden aus seiner Sicht überinterpretiert. «Die Indikatoren hängen zusammen. Ein Land entwickelt sich nicht nur deshalb gut, weil die Arbeitslosigkeit gerade niedrig ist, und das Wirtschaftswachstum kann durch die Politik kurzfristig verzerrt sein.»
Die Schweiz habe die richtigen Massnahmen getroffen. «Mit Kurzarbeitergeld und Hilfsgeldern hat die Regierung fiskalpolitisch durchaus was gemacht. Das Wirtschaftswachstum ist gut, die Inflation aber dennoch niedrig.»
Neuseeland und Deutschland schneiden schlechter ab als wir
Legge hat 45 Länder nach fünf Indikatoren analysiert: die Gesundheitsbilanz, die Massnahmen-Härte, die Entwicklung der Wirtschaft und der Inflation sowie die fiskalpolitische Unterstützung, etwa durch Corona-Hilfspakete. Die Länder umfassen rund 63 Prozent der Weltbevölkerung und 88 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts. In einzelnen Fällen waren nicht alle Zahlen vorhanden – China publiziert zum Beispiel keine Daten zur Übersterblichkeit.
Die Daten für Legges Auswertungen stammen etwa vom Internationalen Währungsfonds oder von der Universität Oxford, welche die staatlichen Einschränkungen zur Corona-Bekämpfung im «Oxford Stringency Index» in Zahlen zusammengefasst hat. Der Index zeigt etwa, dass das für seinen Sonderweg bekannte Schweden im Schnitt härtere Massnahmen verhängt hat als die Schweiz. Anderen Ländern – besonders den Inselstaaten – gelang es, diesen Wert durch gezielte Massnahmen und eine starke Abschottung nach aussen gering zu halten – was der eigenen Bevölkerung ein vergleichsweise normales Leben bescherte, ohne gleichzeitig hohe Todesopfer verkraften zu müssen.
Blick stellt in der Grafik ausgewählte Länder und ihr Ranking in der Gesamt-Bilanz dar. Insgesamt wurden die Daten von 45 Ländern erhoben und gerankt:
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Gesundheitsbilanz: Je tiefer die Übersterblichkeit, desto besser ist ein Land durch die Krise gekommen.
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Massnahmen: Je tiefer der Wert im Oxford Stringency Index, desto besser.
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Wirtschaftliche Entwicklung: Veränderung des Bruttoinlandprodukts zwischen Oktober 2019 und Oktober 2021. Je schlechter die Entwicklung, desto schlechter ist das Land durch die Krise gekommen.
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Fiskalpolitik: Je höher die Kennzahl im Fiscal Stimulus Index des Centre for Economic Policy Research, desto schlechter.
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Inflation: Je höher der Anstieg im Konsumentenpreisindex (CPI) zwischen Ende 2019 und Ende 2021, desto schlechter ist ein Land durch die Krise gekommen.
Der durchschnittliche Rang ist der Durchschnitt aus allen fünf Indikatoren (falls nur vier Indikatoren vorhanden: Durchschnitt dieser vier Indikatoren). Je tiefer der durchschnittliche Rang, desto besser ist ein Land durch die Corona-Krise gekommen.
Bei Interesse finden Sie hier das komplette Ranking. Klicken Sie dafür einfach «Vollständige Analyse anzeigen».
Blick stellt in der Grafik ausgewählte Länder und ihr Ranking in der Gesamt-Bilanz dar. Insgesamt wurden die Daten von 45 Ländern erhoben und gerankt:
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Gesundheitsbilanz: Je tiefer die Übersterblichkeit, desto besser ist ein Land durch die Krise gekommen.
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Massnahmen: Je tiefer der Wert im Oxford Stringency Index, desto besser.
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Wirtschaftliche Entwicklung: Veränderung des Bruttoinlandprodukts zwischen Oktober 2019 und Oktober 2021. Je schlechter die Entwicklung, desto schlechter ist das Land durch die Krise gekommen.
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Fiskalpolitik: Je höher die Kennzahl im Fiscal Stimulus Index des Centre for Economic Policy Research, desto schlechter.
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Inflation: Je höher der Anstieg im Konsumentenpreisindex (CPI) zwischen Ende 2019 und Ende 2021, desto schlechter ist ein Land durch die Krise gekommen.
Der durchschnittliche Rang ist der Durchschnitt aus allen fünf Indikatoren (falls nur vier Indikatoren vorhanden: Durchschnitt dieser vier Indikatoren). Je tiefer der durchschnittliche Rang, desto besser ist ein Land durch die Corona-Krise gekommen.
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Überraschend: Die oft gepriesenen Vorzeige-Länder schneiden im Gesamtranking gar nicht so gut ab. Neuseeland liegt auf Basis der vorliegenden Daten fünf Plätze hinter der Schweiz. Und die wirtschaftlichen Auswirkungen könnten sich im Inselstaat noch verschlechtern: Die viel gefeierte Premierministerin Jacinda Ardern (41) steht aktuell unter Druck, weil die Inflation so hoch ist. Deutschland mit seiner risikoaversen Pandemiepolitik liegt bei der Übersterblichkeit nur knapp vor der Schweiz und im Gesamtranking auf dem 25. Platz – die harten Einschränkungen forderten unter anderem starke fiskalpolitische Massnahmen, was sich in der Bilanz negativ auswirkt.
Das Schlusslicht bilden – direkt nach den USA – Entwicklungs- und Schwellenländer. Das einzige europäische Land, das weit abgeschlagen liegt, ist Tschechien (41. Platz). Eine mögliche Rolle könnten vergleichsweise späte und geringe Massnahmen sowie Desinformation und russische Cyberattacken auf kritische Infrastruktur gespielt haben.
Ranking gibt einen soliden Überblick zur Corona-Krise
«Die Schweiz hat keinen drastischen Wirtschaftseinbruch gehabt, keine drastischen Einschränkungen – und auch keine drastische Übersterblichkeit», fasst Legge seine Ergebnisse zusammen. Er stellt aber auch klar, dass die Zahlen vorsichtig interpretiert werden müssen. Das Ranking zeige nur teilweise, wie gut die Politik reagiert habe. Es decke auch nicht alle möglichen Aspekte ab.
Nicht berücksichtigt ist etwa, wie früh ein Land betroffen war, wie viele Menschen auf der Intensivstation landeten oder wie schnell Impfstoff verfügbar war. Auch über die Datenqualität und die Gleichgewichtung der fünf Indikatoren lässt sich nicht sicher diskutieren. Doch die Auswertung gibt einen soliden Überblick, wie gut die Länder gesamthaft durch die zwei harten Pandemie-Jahre gekommen sind.
«Natürlich empfehlen wir Schulschliessungen, wenn Schulen Hotspots sind – aber die Möglichkeit, Schulen zum Wohle der Gesellschaft so sicher wie möglich offen zu halten, kann dieses Risiko überwiegen», sagte die Basler Epidemiologin Emma Hodcroft (35) zu Beginn der Omikron-Welle in einem Interview mit SonntagsBlick. «Politische Entscheidungen können nicht im luftleeren Raum getroffen werden, und sie sind nicht einfach.»
Schweiz-Modell wäre nicht für alle Länder anwendbar
Manche Länder hatten in Sachen Corona auch schlicht Pech. Italien etwa, wo bereits am 31. Januar 2020 die ersten Corona-Fälle bestätigt wurden – und die ersten Hotspots entstanden, bevor die Schweiz überhaupt ihren ersten Fall verzeichnete. Traumatisiert von der ersten Welle tendierten die Südeuropäer auch später eher zu starken Einschränkungen.
So dramatisch die Lage für Italien war, so lehrreich war sie für die Nachbarländer. Der Schweiz half der Blick über die Grenze, schnell und angemessen zu reagieren. Und: Sie schlitterte mit einer vergleichsweise gesunden Bevölkerung, einem sehr guten Gesundheitssystem und einer starken Wirtschaft in die Pandemie. Das dürfte Schlimmeres verhindert haben und gab der Regierung Spielraum. In einem anderen Land hätten ähnlich geringe Massnahmen viel schlimmere Folgen haben können. Gleichzeitig ist unklar, wie viel stärker die Massnahmen hätten sein müssen, um die Übersterblichkeit signifikant zu senken.
Das heisst nicht, dass die Schweiz alles richtig gemacht hat. Hinter jedem Todesfall und jedem schweren Verlauf stehen schliesslich Menschen und ihre Angehörigen und Freunde.
Der Bundesrat hat die pandemische Lage oder die Bedeutung von simplen Schutzmassnahmen wie Masken mehrfach falsch eingeschätzt. Mit offenen Hotels und offenen Armen gegenüber ausländischen Skitouristen etwa trug man im Winter 2020/2021 zur Verbreitung der ansteckenderen und tödlicheren Beta-Variante bei, unterlief die Bemühungen der Nachbarländer zur Eindämmung des Virus und weckte europaweit Neid und Missgunst.
Bundesrat setzte in Sachen Corona auf Risiko-Kurs
Von harten Einschränkungen im Ausland profitierte die kleine, «eingekesselte» Schweiz dafür automatisch mit. Die Nachbarländer behielten ihre Fallzahlen auch entgegen wirtschaftlichen Interessen im Griff. Zudem sorgten sie durch eine hohe Solidarität untereinander dafür, dass einzelne Gesundheitssysteme nicht kollabierten – in Deutschland etwa wurden zwischenzeitlich in allen 16 Bundesländern Patienten aus dem europäischen Ausland behandelt.
Die Schweiz nahm im Frühling 2020 noch 52 französische Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf. Ein solch solidarischer Akt wäre zu einem späteren Zeitpunkt wohl undenkbar gewesen: In der zweiten Welle schaffte sie es selbst nur knapp, die eigenen Erkrankten zu versorgen. Auf eine Blick-Anfrage, ob Aufnahme-Bitten aus dem Ausland abgelehnt werden mussten, wollte das BAG nicht antworten. Gleichzeitig hatte die Schweiz Glück, dass sie (knapp) nicht auf Behandlungskapazitäten im Ausland angewiesen war.
Durch vergleichsweise geringe Einschränkungen hat die Schweiz hohe Fallzahlen in Kauf genommen. Es ist schwierig zu messen, inwieweit sich der Schutz von Freiheit und Wirtschaft etwa auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung niederschlägt – wenn dem gegenüber langfristige gesundheitliche Auswirkungen durch Long Covid oder Schäden durch die künstliche Beatmung stehen.
Der Bundesrat ist mit seinem laxen Corona-Kurs ein Risiko eingegangen und hat zeitweise hoch gepokert. Das tut er jetzt wieder: Während viele Nachbarländer noch vorsichtig sind, hat er bereits am 16. Februar grosszügig gelockert. Zwei Jahre nach dem ersten Corona-Fall in der Schweiz sind selbst Schutzmasken grösstenteils passé. Und die Corona-Taskforce wird auf Ende März aufgelöst.
Corona-Fallzahlen steigen aktuell wieder
Ob sich das bewährt, ist noch offen. Rund einen Monat nach den grosszügigen Öffnungen ist die Infektionsrate mit 317 Fällen pro 100'000 Einwohnern (14. März) höher als Mitte Januar, als sich die Omikron-Welle gerade ihrem Höhepunkt näherte. Trotz durch Impfungen und Genesungen höherem Immunschutz in der Bevölkerung könnten auch Todesfälle und Spitaleinweisungen bald wieder zunehmen.
Einige der Schweizer Corona-Expertinnen und -Experten sind sichtbar genervt über die ihrer Ansicht nach kurzsichtige Schweizer Pandemiepolitik. «Irgendwas läuft falsch, wenn es im Jahr drei der Pandemie immer noch keine verbesserten Belüftungskonzepte und keine Masken mehr gibt (...)», twitterte etwa die Genfer Virologin Isabella Eckerle (42) am 21. Februar.
Jüngst warnte Eckerle ausserdem davor, dass die Situation wesentlich komplexer sei als die reine Frage, ob Intensivbetten frei oder belegt seien. Auch der Krieg in Europa dürfe nicht ausgeblendet werden: Kriegsgeschehen und gleichzeitig eine anhaltende Pandemie seien wirklich Neuland und liessen nichts Gutes erhoffen. Nicht nur wegen Corona – sondern auch wegen des Risikos weiterer Infektionskrankheiten.
Wäre die Schweiz auf eine neue Pandemie vorbereitet?
Zwei Jahre nach der Pandemie feiert die Schweiz zwar die neue Freiheit, doch grundlegende Fragen sind nicht geklärt. Etwa wer für die Beschaffung von Schutzmaterial zuständig ist – in der Pandemie musste die Armeeapotheke dies kurzfristig übernehmen. Eine Revision des Epidemiengesetzes steht noch aus.
Und auch das Vertrauen in die Regierung ist gesunken. Neun Abstimmungen haben Bundesrat und Parlament seit den Wahlen von 2019 verloren – ein Novum. Und obwohl ein Grossteil der Bevölkerung den Öffnungskurs unterstützt, ging laut der jüngsten Corona-Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo der Anteil der Befragten, die der bundesrätlichen Pandemiepolitik grosses oder sehr grosses Vertrauen entgegenbringen, von 53 auf 45 Prozent zurück. Der Anteil jener mit tiefem oder sehr tiefem Vertrauen sank gleichzeitig von 33 auf 31 Prozent.
Der Bundesrat hat nun einen Bericht zur Krisenbewältigung bestellt. Bis zu den Sommerferien soll das Luzerner Büro Interface klären, ob Bund und Kantone zeitgerecht und angemessen auf die Bedrohung durch Covid-19 reagiert haben.
Niemand kann schliesslich wissen, welche Auswirkungen die nächste Welle haben wird – oder ob gar ein neues Virus auftaucht. Eine Lehre kann die Schweiz jedoch mit Sicherheit daraus ziehen: Eine starke Wirtschaft schadet auf keinen Fall. Vorher wie hinterher.