Die vier ukrainischen Kernkraftwerke sind wieder an das nationale Stromnetz angeschlossen worden, nachdem sie Anfang der Woche vollständig vom Netz getrennt worden waren. Das teilte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) am Freitag mit. Die Anlagen waren am Mittwoch zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine – nach der jüngsten Welle russischer Luftangriffe auf wichtige Infrastrukturen – vom Netz getrennt worden.
Gebannt ist die Angst vor einem atomaren Unfall aber trotzdem nicht, im Gegenteil. Petro Kotin (61), der Präsident des ukrainischen Kernkraftwerksbetreibers Energoatom, meint zu «The Guardian»: «In all den 40 Jahren, in denen die ukrainische Atomindustrie in Betrieb ist, ist so etwas noch nie passiert.»
Notabschaltungen erhöhen Risiko für Unfälle
Zwar seien die AKW allesamt mit mehreren Schutzmechanismen ausgerüstet – um eine Kernschmelze und Explosion wie in Tschernobyl 1986 zu vermeiden. Anlagen würden sofort abgeschaltet und Dieselgeneratoren zur Kühlung der Brennelemente hochgefahren. Doch wiederholte Angriffe, die zu weiteren Notabschaltungen führen, würden alle Komponenten der Anlage enorm belasten.
Kotin verglich den Vorgang mit einem Auto, das mit 200 Kilometer pro Stunde fährt und dann eine Vollbremsung macht. «Das hat alle möglichen Folgen, beispielsweise, dass sich die Ventile verformen – und zwischen Reaktor und Turbine gibt es eine grosse Anzahl von Ventilen», sagte er. Letztendlich könnte der Schaden Auswirkungen auf die nukleare Sicherheit haben, sagt Kotin weiter.
Oleh Korikov, der ukrainische Chefinspektor für nukleare Sicherheit, fügt an, mit jeder Notabschaltung vervielfachen sich die Risiken. «Jeder Einsatz einer Reaktorschnellabschaltung kann einen Unfall verursachen», sagte Korikov. «Mit diesem Abschaltvorgang erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Fehlfunktion der Ausrüstung oder eines Fehlers des Personals.»
«Sie nutzen es wie eine Militärbasis»
Ein ehemaliger Arbeiter aus Saporischschja, der mit den jetzigen Beschäftigten in Kontakt stand, sagte, sie hätten keine Anzeichen für einen russischen Abzug gesehen, wie die britische Zeitung schreibt. Im Gegenteil: Die Soldaten im Werk bereiteten sich auf einen langen Winter vor und verlegten ihre Schlafquartiere in die Kantine.
«Es ist illegal, dass sich schwere Waffen innerhalb eines zivilen Atomobjekts befinden. Sie nutzen es wie eine Militärbasis zum Schutz ihrer schweren Waffen, die sie in den Turbinenhallen der Reaktoren eins und zwei untergebracht haben», sagte Kotin. «Das ist eine ganz furchtbare Situation für den Brandschutz. Wenn es zu einem Brandfall kommt, kann man ihn nicht entschärfen, weil man einfach keinen Zugang hat – weil der gesamte freie Raum in den Turbinenhallen mit all diesen Fahrzeugen vollgepackt ist.»
Rafael Grossi (61), der Generaldirektor der IAEA, versucht seit Monaten, die Einrichtung einer «Sicherheitsschutzzone» um das Kernkraftwerk Saporischschja auszuhandeln, in der ein Beschuss verboten wäre, doch die Ukraine besteht darauf, dass eine solche Zone vollständig entmilitarisiert sein müsste. (chs)