Am 14. Dezember 2022 schloss Kremlsprecher Dmitri Peskow (55) eine Waffenruhe rund um das orthodoxe Weihnachtsfest noch aus. Sein Chef hat es sich in der Zwischenzeit anders überlegt. Am Donnerstag ordnete Russlands Präsident Wladimir Putin (70) überraschend eine anderthalbtägige einseitige Waffenruhe an. Sie begann am Freitag um 10 Uhr.
Es ist das erste Mal seit Beginn der russischen Offensive in der Ukraine, dass Moskau eine vollständige Waffenruhe in dem Land ankündigt. Offiziell hat die Waffenruhe einen religiösen Hintergrund. Putin reagierte auf einen Appell des russischen Patriarchen Kirill (76), der um eine solche Feuerpause während des orthodoxen Weihnachtsfests gebeten hatte, das in beiden Ländern gefeiert wird. Kirill unterstützt Putin und dessen Politik und predigt gegen Kiew sowie den Westen.
Die Experten der amerikanischen Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) vermuten hinter dem Weihnachtsfrieden allerdings etwas anderes als religiöse Gründe. Offenbar braucht das russische Militär eine Pause – und zwar, um eine neue Gross-Offensive vorzubereiten.
Auffällige Bekanntgabe des Verteidigungsministers
Auch Ukraine-Präsident Wolodimir Selenski (44) ist überzeugt, dass dies nicht bloss eine einfache Feuerpause ist. Russland wolle Weihnachten als Vorwand nutzen, um «Ausrüstung, Munition und Wehrpflichtige» näher an die ukrainischen Stellungen zu bringen, erklärte er in einer Videobotschaft. Die russische Führung befinde sich in einer verzweifelten Situation und sei zu verschiedenen Manipulationen bereit.
Auffällig: Just vor der Bekanntgabe hat Verteidigungsminister Sergei Schoigu (67) eine Inventur der Armee angekündigt. Der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Jäger (62) sieht darin im Gespräch mit «ntv» ein Indiz für die Vorbereitung einer neuen Offensive, die die Ukraine «ganz genau beobachten» müsse.
Laut ISW will Putin mit der Unterbrechung der Kämpfe ausserdem den Ruf der Ukraine schädigen. Putin versucht, die Ukraine als unnachgiebig darzustellen –und als unwillig, die notwendigen Schritte zu Verhandlungen zu unternehmen. Auch solle die Ukraine als Unterdrücker religiöser Gruppen wahrgenommen werden.
Russischer Besatzungschef will ukrainische Angriffe trotz Waffenruhe erwidern
Die Führung in Kiew bezeichnete die Feuerpause als «Heuchelei». Beobachter in der ukrainischen Hauptstadt gingen davon aus, dass die Feuerpause den Ukrainerinnen und Ukrainern zwar möglicherweise Angriffe mit Raketen und Drohnen über die Weihnachtstage ersparen könnte.
An den Fronten im Osten und Süden des angegriffenen Landes hingegen werde sich die Lage wohl kaum verändern. Mychajlo Podoljak (50), Berater im ukrainischen Präsidentenbüro, betonte, eine «zeitweilige Waffenruhe» könne nur beginnen, wenn Russland die besetzten Gebiete verlasse.
Ob der einseitige Weihnachtsfrieden tatsächlich hält, ist fraglich. Denis Puschilin (41), ein Besatzungschef, der von Moskau im ostukrainischen Gebiet Donezk eingesetzt wurde, erklärte bereits, russische Truppen würden ungeachtet von Putins Befehl auch weiterhin ukrainische Angriffe erwidern. Man werde dem Feind keine Chance geben, «während dieser Feiertagsstunden seine Positionen an der Frontlinie zu verbessern». Seit Beginn der ausgerufenen Waffenruhe ist es gemäss ukrainischen Angaben tatsächlich bereits zu russischen Angriffen an mehreren Orten gekommen.