Susan Neiman kann nicht feiern. «Das Wahlergebnis entsetzt und deprimiert mich», sagt die amerikanische Philosophin beim Interview mit SonntagsBlick. Obwohl er gelogen, betrogen und in der Corona-Krise das Leben so vieler Menschen aufs Spiel gesetzt hat, hat Donald Trump sogar zehn Millionen Stimmen mehr bekommen als vor vier Jahren.
Über 72 Millionen Menschen haben Trump gewählt. Können Sie sich das erklären?
Neiman: Ich warne vor vorschnellen Schlüssen. Ich schaue Fox News, um zu sehen, wie sie über die Wahl sprechen.
Der rechtskonservative Sender scheint gerade etwas mit Trump zu brechen …
Ja, sie wenden sich ein bisschen. Aber man muss dennoch sagen: Das ist eine alternative Wahrheit, die die meisten Amerikaner präsentiert bekommen. Das ist der grösste Sender der USA.
Warum ist Fox News so mächtig?
Das Problem ist, dass wir keinen einzigen Sender haben, der voll staatlich finanziert ist. Nicht mal das National Public Radio (NPR). Fox News ist in bestimmten Teilen des Landes überall präsent. Du kannst dich dem nicht entziehen. Im Süden läuft es in allen Supermärkten, in Restaurants. Selbst im Wohnzimmer von James Meredith, einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung – angeblich, damit er seine Feinde verstehen kann. Diese Sendungen präsentieren eine völlig andere Wirklichkeit.
Aber jeder Mensch hat doch eigentlich eine Art inneren Kompass, was richtig und falsch ist. Haben Trumps Wähler ihren gesunden Menschenverstand verloren?
Klug ausgebaute Propaganda kann wirklich eine andere Wahrheit konstruieren. Den USA mangelt es an einem gemeinsamen Wahrheitsbegriff. Ein Beispiel: Wir haben die Belege gesehen, dass die Korruption dieser Regierung alles übersteigt, was wir bisher kannten. Die Korruption in diesem Amt ist verheerend. Und dennoch hören Millionen Amerikaner jeden Tag, dass Joe Biden und sein Sohn noch korrupter sind.
Obwohl Gouverneure, Wahlchefs und Wahlbeobachter keine Anzeichen dafür sehen, halten Trump und seine Unterstützer am Vorwurf des Wahlbetrugs fest.
Diese Menschen glauben nicht an Werte. Sie halten Werte und Ideale für Dinge, mit denen man eigene Machtinteressen verschleiert. Das ist eine postmoderne Wahrheit, zu der sich auch die sogenannten Alt-Right-Medien bekennen. «Wenn es keine Wahrheiten gibt und nur Narrative gibt, dann will ich das stärkste Narrativ aufbauen», das ist der O-Ton von Andrew Breitbart. Und diese Meinung sehen wir übrigens auch im linken Lager!
Bei Bernie Sanders etwa?
Nein. Das hat er mit Joe Biden gemeinsam: Die beiden glauben an Werte. Die mögen unterschiedlich sein, aber sie sind da.
Wovon lebt Trumps Narrativ?
Von einer angeblichen Authentizität: Alle Politiker sind korrupt – nur er spricht es aus. Das ist immer noch keine Rechtfertigung für dieses Wahlergebnis, aber im Grunde liegt es daran. Dazu kommt noch eine kräftige Portion Rassismus.
Die Gerichte sind jetzt schon dabei, Trumps Klagen abzuschmettern. Warum sind seine Lügen über den Wahlprozess wichtig?
Denken Sie an die Dolchstosslegende. Ich werde erst am 20. Januar (Tag der Amtsübergabe; Anm. d. Red) aufatmen und vielleicht nicht mal dann. Trumps Macht ist in den nächsten zehn Wochen noch immens. Er hat wirklich genau einen wahren Satz gesprochen, und das war vor vier Jahren: «Ich könnte jemanden an der Fifth Avenue erschiessen, und es würde mich keine Wähler kosten.» Ich glaube, das ist richtig. Da ist irgendwas Kultartiges bei dem Mann.
Glauben Sie nicht, dass die demokratischen Institutionen standhalten?
Leider bin ich mir da nicht so sicher. Ich hatte solche Hoffnungen aufs Impeachment-Verfahren. Alle Beweise waren da. Als endlich einer seiner Leute ausgesagt hatte, dachte ich: Okay, das wars. Er wird gehen.
Das ist bekanntlich nicht geschehen.
Ich bin sehr besorgt, dass die Institutionen und Normen es gar nicht mehr schaffen, sich angemessen zu dieser rechtskonservativen Regierung zu verhalten. Da komme ich wieder zur Dolchstosslegende zurück: Diese Stimmungsmache, dass die Wahlen «gestohlen» waren, unterminiert von vornherein jeden Versuch, das Land zu einen. Ich fürchte, dass sich er oder sein Sohn Donald Jr. mit dieser Hetze schon auf eine neue Präsidentschaft vorbereiten. Nach dem Motto: Die haben uns damals die Wahl gestohlen, diesmal werden sie es nicht schaffen.
Der US-Historiker Timothy Snyder schreibt in Bezug auf die Weimarer Republik, es wäre ein Irrglaube, die Demokratie zu untergraben und alles, was danach passiert, noch kontrollieren zu können. «Es wird sich jemand anderes herauskristallisieren, der besser an das Chaos angepasst ist und es auf eine Weise handhaben wird, die sie weder wollen noch erwarten.» Was denken Sie darüber?
Ich bin selten einer Meinung mit Snyder, aber hier schon. Die Republikaner haben gedacht, sie könnten Trump kontrollieren. Im Augenblick aber haben sie Angst vor ihm und sie haben Angst vor seinen Wählern. Trump hat diese irrsinnige, ich würde sagen hypnotische, Macht über mehr als 72 Millionen Menschen. Kein Republikaner will etwas gegen Trump sagen, weil Trump es gleich twittert und damit die Wähler von dieser Person entfremdet.
Ihr Heimatstaat Georgia ist – auch wenn Biden dort gerade einen knappen Sieg eingefahren hat – seit dem Civil Rights Act tiefrot. Die Rassenfrage kocht in den USA immer wieder hoch, zuletzt mit den «Black Lives Matter»-Protesten. Was haben die USA in Sachen Vergangenheitsbewältigung eigentlich falsch gemacht?
Sie haben gar nicht erst angefangen. Als Barack Obama 2015 die Trauerrede für die neun ermordeten Kirchengänger in South Carolina gehalten hat, war er der erste nationale Politiker, der diese Verbindung zwischen einer gewalttätigen Vergangenheit und einer gewalttätigen Gegenwart gezogen hat. Das hat vorher noch niemand gemacht.
Sie empfehlen in Ihrem letzten Buch, in Sachen Vergangenheitsbewältigung von den Deutschen zu lernen.
Ich weiss sehr wohl, wie schleppend, wie schwierig die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung war, wie lange sie gedauert hat, wie unvollkommen sie bis heute ist. Trotzdem ist Deutschland das erste Land, das das systematisch angegangen ist. In Amerika fängt das gerade erst an. Ich habe wirklich Hoffnung in die «Black Lives Matter»-Bewegung – nicht nur wegen der Grösse der Demonstrationen, sondern weil das Problem langsam anerkannt wird.
Trump hat ordentlich Feuer ins Öl gegossen. Brauchen die USA auch für diese Präsidentschaft eine Art Vergangenheitsbewältigung?
Ja. Wir dürfen auf gar keinen Fall einfach zur Versöhnung übergehen. Immerhin könnte es der Erfolg dieser unglaublichen, offen rassistischen Regierung sein, dass sie vielen Menschen die Augen geöffnet hat, wie tief der Rassismus im Land geht. Es ist irrsinnig, dass man die konföderierten Denkmäler behält, dass Trumps Anhänger überall mit Fahnen der Konföderierten demonstrieren. Stellen Sie sich das mal vor, das wäre so in Deutschland mit der Wehrmacht! Erfreulicherweise glauben mehr als 70 Prozent der Amerikaner jetzt immerhin, dass systemischer Rassismus ein Problem ist. Wenn man irgendwas Gutes aus dieser Regierung holen kann, dann vielleicht das.
Wie bekommen die USA das Böse aus dem System – und wie bringen sie das Vertrauen in Medien und Demokratie zurück?
Ich bin mir wirklich nicht sicher, aber ich habe einen Vorschlag.
Schiessen Sie los.
Die Europäer wissen wirklich nicht, wie schrecklich es um das amerikanische Sozialsystem steht. Sie haben vielleicht die Diskussion um Obamacare mitbekommen. Das Problem geht viel weiter: Amerikaner kennen nicht mal die kleinste Form der Krankschreibung. Und sie nehmen das hin, wie sie das Wetter hinnehmen: als gehöre es zur Weltordnung. Sie haben keine Ahnung, dass es anders gehen könnte. Es liegt nicht nur an fehlenden Waffengesetzen, dass es so viele Schiessereien gibt. Es gibt eine enorme Wut. Und wenn die Regierung es schaffen würde, ein paar dieser Missstände zu beheben, könnte ich mir vorstellen, dass der Wutpegel heruntergeht. Und dass man in der Lage ist, zivilisierter miteinander umzugehen und auch Vertrauen in eine Regierung zu haben, weil die Regierung tatsächlich was für einen macht.
In Susan Neimans (65) Heimatstaat Georgia ist die US-Wahl noch nicht vorbei: Zwei Senatssitze stehen noch aus. Die Philosophin war Professorin in Yale und Tel Aviv. Seit 2000 leitete sie das Einstein Forum in Potsdam (D). Zuletzt erschien ihr Buch «Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können».
In Susan Neimans (65) Heimatstaat Georgia ist die US-Wahl noch nicht vorbei: Zwei Senatssitze stehen noch aus. Die Philosophin war Professorin in Yale und Tel Aviv. Seit 2000 leitete sie das Einstein Forum in Potsdam (D). Zuletzt erschien ihr Buch «Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können».