Ai Weiwei zum Aufstand gegen Chinas Corona-Diktatur
«Proteste sind nutzlos»

Der Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei glaubt nicht, dass die Proteste in China zu einem Regimewechsel führen werden. Der Schweiz wirft er Heuchelei vor.
Publiziert: 04.12.2022 um 00:47 Uhr
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Junge Chinesinnen und Chinesen gehen gegen die Regierung auf die Strasse.
Foto: Getty Images
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Tobias MartiRedaktor SonntagsBlick

Tausende Chinesen überraschen seit einer Woche die Welt. Erstmals seit Jahrzehnten gingen sie in Massen auf die Strasse grosser Städte – und forderten offen den Rücktritt der Regierung unter Präsident Xi Jinping (69). Vor allem mit seiner eisernen Null-Covid-Politik hat er das Milliardenvolk gegen sich aufgebracht.

Ai Weiwei (65), Weltkünstler und Regimekritiker, ist dennoch wenig optimistisch in Bezug auf die Chancen des Aufstands: «Das Scheitern der Proteste ist unausweichlich», sagt er zu SonntagsBlick. Der Mann, der das «soziale Gewissen Chinas» genannt wird, lebt mit seiner chinesischen Frau und seinem Kind im portugiesischen Exil. Die Fragen von SonntagsBlick beantwortete er schriftlich.

Es fehlt an Führern

Ai Weiwei zweifelt am Erfolg der Widerstandsbewegung, weil es ihr an einer politischen Agenda und an Führern fehle. Die Proteste machten zwar die öffentliche Meinung in China deutlich. «Was den Westen interessiert, ist aber, ob dies zu einem Regimewechsel führen wird. Meine Antwort: Man sollte sich von dieser Vorstellung verabschieden, denn der Widerstand in China ist auf die Unzufriedenheit der Menschen mit der Gesellschaft und nicht auf ihre Unzufriedenheit mit dem System zurückzuführen.»

Ausbildung und Informationen, die Chinesen heute erhalten, bieten laut Ai keine Grundlage, um das Regime zu hinterfragen oder gar herauszufordern. Diese Art von Widerstand werde nicht zu echten gesellschaftlichen Veränderungen führen.

Menschen kehren zum normalen Leben zurück

«Das letzte Wort über die Proteste haben Tränengas, Kugeln, Schlagstöcke, Gefängnisse und Gerichte, die vom Regime kontrolliert werden.» Ai weiter: «Mit anderen Worten: Proteste sind nutzlos, selbst wenn sie mit Blutvergiessen enden, wie es derzeit im Iran der Fall ist. Diese Beispiele zeigen jedem, dass autokratische Regime sich nicht einfach aufgrund von Protesten ändern lassen.»

Ai ist überzeugt, dass die Menschen nun wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehrten. Dies bedeute wachsendes Misstrauen gegenüber den Politikern, aber auch heftige finanzielle Einbussen sowie eine strengere Kontrolle der Chinesinnen und Chinesen durch die Behörden.

Was bleibe, so Ai, sei eine grosse Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die chinesische Regierung ihrerseits misstraue weiterhin dem eigenen Volk – sowie der Wissenschaft, vor allem der Medizin.

Einige Massnahmen dürften zurückgefahren werden

Dennoch deutete im Verlauf der Woche vieles darauf hin, dass die Kommunistische Partei zumindest einige der rigiden Covid-Massnahmen zurückfahren wird. Wie aber geht es mit der Corona-Politik weiter, wenn sie die sozialen Unruhen hervorruft, die sie doch verhindern soll?

Ai Weiwei: «Die Partei wird die Covid-Beschränkungen zurücknehmen, aber das ist nicht direkt auf die Proteste zurückzuführen.» Dafür sei vielmehr das Scheitern der Kontrollpolitik nach dem Motto «Null Covid» verantwortlich.

«Die Lockerung der Massnahmen wird nun den grössten Teil des öffentlichen Ärgers besänftigen», glaubt Ai. Die Geschichte werde sich aber an die Fehler des Regimes erinnern, an den kaum zu beziffernden Schaden, den die Massnahmen der Regierung verursacht haben.

Untergräbt Xi Jinping seine Autorität?

Weltweit rätselten Beobachter dieser Tage, ob Xi Jinping seine Autorität untergraben könnte, indem er die offizielle Covid-Politik abmildert oder umkehrt. Bisher stützte der Staats- und Parteichef seine Legitimität und die der Partei darauf, dass er das Virus besser unter Kontrolle halten konnte als andere Länder – jedenfalls besser als seine geopolitischen Rivalen im Westen.

«Die Autorität der führenden Politiker in China hängt nicht von öffentlichen Stellungnahmen ab, da es in der chinesischen Gesellschaft keine Plattform für öffentliche Stellungnahmen gibt», sagt Ai Weiwei. Man kenne in seinem Heimatland auch keinen Rahmen für eine wissenschaftliche Bewertung von Regierungshandeln. Daher könne die Autorität der chinesischen Führer auch nicht untergraben werden.

Schweiz nimmt keine Stellung

Westliche Regierungen schwiegen derweil zu den Vorgängen im Reich der Mitte. Auch die Schweiz hüte sich, zu den Protesten Stellung zu nehmen. Ai Weiwei findet dafür klare Worte: «Die Schweiz war und ist mit autokratischen Regimes verbunden. Sie hat von ihnen profitiert und profitiert weiterhin von ihnen. Die Schweiz ist ein Mikrokosmos für die heuchlerische politische Haltung in Europa und allen anderen entwickelten Ländern der Welt.»

Alle wüssten, dass die Schweiz versuche, maximalen Profit zu erzielen, indem sie eine gewisse neutrale Haltung einnehme. Daran gebe es keinen Zweifel. Ai Weiwei: «Die sogenannte Neutralität bedeutet in Wahrheit, dass man sich auf die Seite der Starken stellt und sich an der Unterdrückung der Schwächeren beteiligt!»

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