Im Februar 2021 warnte Christoph Blocher vor einem Corona-Diktator Alain Berset: «Die Demokratie wird ausgeschaltet. Du bist der Diktator, du sagst, wie es ist.» Zur gleichen Zeit lobte seine Tochter Magdalena Martullo Chinas Umgang mit der Pandemie. Die Bündner SVP-Nationalrätin und Chefin der Ems-Chemie sagte: «Meetings, Messen, Entwicklungen, Firmenübernahmen – die Chinesen fahren das volle Wirtschaftsprogramm. Und was macht Europa? Alle einsperren, vieles schliessen, verlangsamen, erschweren, verkomplizieren und mit Geld überdecken.»
Dieser Tage wickelt die Schweiz ihre letzten Corona-Massnahmen ab; das Parlament diskutiert darüber, ob der Bund noch ein paar Monate lang kostenlose Covid-Tests anbieten soll oder nicht. Derweil sehen wir in China – dessen Bevölkerung kaum und bloss mit schlechten Vakzinen geimpft ist –, was (Corona-)Diktatur tatsächlich bedeutet.
Lange Zeit war Peking, vor Moskau und anderen Destinationen möglichst ausserhalb der EU, das wichtigste Betätigungsfeld der Schweizer Aussenpolitik. Inzwischen versucht der Bundesrat, unser Land wieder stärker in Europa zu verankern. Er tut sich allerdings schwer damit.
Seit einem halben Jahr sondiert Staatssekretärin Livia Leu in Brüssel, ob es sich lohnt, mit der Europäischen Union über eine Verbesserung der zerrütteten Beziehungen zu verhandeln. Laut Medienberichten könnte man sich bei den Themen Lohnschutz und Recht auf Sozialhilfe für EU-Bürger in der Schweiz auf einen Kompromiss einigen. Doch beim wirklich entscheidenden Punkt gibt es keine Bewegung: In der Frage, wer bei juristischen Uneinigkeiten zwischen der Schweiz und der EU das letzte Wort haben soll.
Brüssel beharrt darauf, dass allein der Europäische Gerichtshof in Luxemburg EU-Recht auslegen darf. Staatssekretärin Leu unterstützte diese Position kürzlich mit bemerkenswerter Deutlichkeit. Gegenüber Radio SRF erklärte Berns oberste Diplomatin Anfang November: «Wir sind ganz klar einverstanden, dass der EuGH das Monopol der Auslegung von EU-Recht hat.» Wenig später wurde freilich bekannt: Aussenminister Ignazio Cassis möchte der EU vorschlagen, in Streitfällen dem Bundesgericht in Lausanne die Haupt-, dem EuGH dagegen höchstens eine Nebenrolle beizumessen.
Vor 30 Jahren, am 6. Dezember 1992, lehnte eine knappe Mehrheit der Stimmenden den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. Das war der Triumph von Christoph Blocher. Erstritten hatte er ihn mit dem Argument: «Wir haben nicht 700 Jahre gegen fremde Richter gekämpft, um jetzt unsere Freiheit gegen fremdes Recht und fremde Richter einzutauschen.»
Diese Worte hallen nach bis in die Gegenwart. Die Angst vor einer neuen Debatte über «fremde Richter» trug 2021 massgeblich zum Abbruch der Verhandlungen für ein Rahmenabkommen bei. Und die Idee von Ignazio Cassis, dass das Schweizer Bundesgericht EU-Recht interpretieren soll, zeigt: Dieselbe Angst lähmt den Bundesrat auch heute.
Aus Schweizer Sicht mag die EU stur erscheinen, im wahrsten Sinne des Wortes rechthaberisch. Umgekehrt lässt sich nicht leugnen, dass es die Eidgenossenschaft ist, die etwas von der EU will: den freien Zugang zu einem Markt mit 450 Millionen Konsumenten. Ebenso offensichtlich ist, dass der Schweiz die Optionen ausgehen. Familie Blocher mag von China schwärmen. Als Alternative zu einer intensiveren Partnerschaft mit Europa hat Peking aber endgültig ausgedient.
Der Schweiz bleibt nur noch eine Wahl, die keine ist. Möchte sie mit «fremden Richtern» kooperieren oder mit fremden Henkern?